Präziseste medizinische Diagnosen dank künstlicher Intelligenz, Messung vielfältiger persönlicher Gesundheitsdaten durch Sensoren und Chips in Echtzeit, individuell maßgeschneiderte Medikamente und Therapien: Die Digitalisierung verspricht auch im Gesundheitswesen einen fundamentalen Wandel. Was er tatsächlich für Menschen und Institutionen im Gesundheitswesen bringt, ist noch offen — und gestaltbar.
Welche Auswirkungen haben Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auf die zwischenmenschlichen Beziehungen im Gesundheitswesen? Wie stellen wir sicher, dass Menschlichkeit auch in Zukunft im Mittelpunkt steht?
Fest steht: Die Digitalisierung bietet enorme Chancen. Es liegt an uns, sie nicht zur Gefahr verkommen zu lassen sondern die Chancen des neuen digitalen Zeitalters für die Interessen der Patientinnen und Patienten zu nutzen.
Diese Themen standen im Zentrum eines Expertenworkshops am 24. Mai, den ACADEMIA SUPERIOR, die Vinzenz Gruppe und die elisabethinen linz.wien initiierten. In einem kleinen Kreis wurde dargelegt, was es braucht, um die Chancen der Digitalisierung zu Gunsten der Menschen zu nutzen.
Die angeführten Thesen stellen die Antwort auf die Frage dar, welche Vision es für Modelle der Gesundheitsversorgung in 10–20 Jahren gibt, welche Player es geben wird, welche Rolle sie einnehmen und wie sie interagieren werden.
These 1
In zehn Jahren wird es nicht mehr das Gesundheitssystem geben, sondern eine Vielzahl an dezentralen Gesundheitssystemen nebeneinander, die gesundheitlichen Nutzen stiften und individuelle Gesundheit ermöglichen.
Durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens werden in zehn Jahren ganz neue Spieler in den Gesundheitsmarkt eingetreten sein, die in der Vermengung mit den traditionellen Playern das Gesundheitssystem neu definieren werden. Das Ergebnis dieser Disruption wird eine Vielzahl an Angeboten nebeneinander sein, die den Menschen zur Verfügung stehen und aus denen PatientInnen individuell wählen können. Gesundheitsleistungen inklusive Diagnose- und Therapiepfade in der Losgröße 1 – also völlig individualisiert – werden damit von den jeweiligen PatientInnen höchstpersönlich zusammengestellt.
These 2
In zehn Jahren wird in einem dezentralen, durch Unübersichtlichkeit gekennzeichneten Gesundheitswesen Vertrauen die Entscheidungsdimension Nummer eins für PatientInnen.
Die Vielzahl an Angeboten und Wahlmöglichkeiten im Gesundheitswesen wird nicht nur individuellen Nutzen stiften, sondern auch eine zutiefst menschliche Eigenschaft triggern: Unsicherheit und vielleicht Desorientierung, weil die Auswahl zu groß und damit unübersichtlich geworden ist. Die richtige Entscheidung für sich selbst und nahe Angehörige zu treffen, kann zur Herkulesaufgabe werden. Vertrauen wird deshalb der bestimmende Faktor sein, wenn es um die Entscheidung eines Patienten für eine Gesundheitsdienstleistung, einen Gesundheitsdienstleister und professionelle Begleitung geht.
These 3
In zehn Jahren wird der Staat, ob auf nationaler oder europäischer Ebene, eine unverzichtbare Rolle als aktiver Regulator einnehmen: In einem permanenten Dialog mit der Gesellschaft wird er einen dynamischen, laufend an technologische und gesellschaftliche Entwicklung angepassten Rahmen für Gesundheitsangebote setzen.
In einer globalisierten Welt, in der täglich neue Technologien und Innovationen auf den österreichischen und europäischen Markt strömen, ist der gesellschaftliche Diskurs über deren Vor- und Nachteile auf allen Ebenen (fachlich, ethisch, rechtlich und finanziell) unumgänglich. Eine Schlüsselrolle in diesem Diskurs übernimmt der Staat (in seiner Breite bis hin zur europäischen Ebene) als Ausdruck demokratische legitimierter Entscheidungsstrukturen und als Garant fuür die Verfolgung und Erhaltung österreichischer /europäischer Werte in diesem Diskurs. Die Ergebnisse des Dialogs werden z.B. in Form von Gesetzen und Finanzierungszusagen etwa für Gesundheitsdienstleistungen sichtbar.
Diese definierten Regeln und Rahmenbedingungen, innerhalb derer Technologien akzeptiert oder abgelehnt werden, sind aber kein starres Konstrukt, sondern ein dynamisches, lernendes System, das – parallel zur Evolution der Technologien – auch selbst weiterentwickelt wird. Es ist Ausdruck eines spezifisch europäischen Weges über einen lebendigen Dialog im Gesundheitswesen und über das Ziel, Fairness und Transparenz für alle in einem digitalen Gesundheitssystem zu ermöglichen.
These 4
In zehn Jahren wird eine neue Gesundheitskultur das Leben der Menschen prägen: Eine wesentlich höhere Gesundheitskompetenz ermächtigt PatientInnen, selbst aktiv zu ihrer eigenen Gesundheit beizutragen. Technologien werden dabei nicht als Fremdbestimmung wahrgenommen, sondern als objektive Unterstützung zur Selbstbestimmung. Dadurch wird auch die Compliance der Menschen für ihre Gesundheits- und Therapiepfade erhöht.
Mit den Smart Devices haben PatientInnen sehr einfach Zugang zu Gesundheitsinformationen und ‑Wissen. Dadurch wandelt sich das Verhältnis von PatientInnen zu ProfessionistInnen von einem Ungleichgewicht immer mehr zu einem Austausch auf Augenhöhe, in dem die PatientIn mit ihren Bedürfnissen im Mittelpunkt steht (Patient Centricity). Zusätzlich werden Technologien das selbstständige Sammeln und Tracken von eigenen Gesundheitsdaten immer weiter vereinfachen. Diese technologischen Möglichkeiten werden nicht als Fremdbestimmung wahrgenommen, sondern als Chance, die eigene Gesundheit besser zu erfassen und als ExpertIn für die eigene Gesundheit – zusammen mit den ProfessionistInnen – zur Problemlösung beizutragen. Auch das „Compliance-Problem“ wird minimiert (kognitive, soziale, wirtschaftliche oder persönliche Gründe, die PatientInnen an der Umsetzung der vorgegebenen Therapie hindern), weil der direkte Nutzen der Therapie für die PatientInnen anhand von unmittelbar produzierten Daten sofort dargestellt werden kann.
Zusätzlich zur Nutzung von Technologien wird die neue Gesundheitskultur durch Bildung gestärkt: Schon den kleinesten der Gesellschaft wird Gesundheitswissen in den elementaren Bildungseinrichtungen vermittelt, was insgesamt zu einer Steigerung der Gesundheitskompetenz/Health Literacy in der Bevölkerung führt, weil Lerneffekte über die Generationen hinweg erfolgen.
These 5
In zehn Jahren werden die AkteurInnen des Gesundheitswesens aus Prävention, Akutbehandlung und Nachsorge eng vernetzt sein. Prozesse werden optimal auf PatientInnen und die MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen ausgerichtet sein.
Wenn PatientInnen mit Smart Devices vom Wohnzimmer aus ihre Gesundheitsparameter messen und diese automatisch an die behandelnden ProfessionistInnen schicken, wenn PatientInnen-Daten vom Rettungsauto aus noch während des Rettungseinsatzes ins Krankenhaus übermittelt werden, wenn die virtuelle Physiotherapie zur Rehabilitation schon während der Operation geplant wird, wenn PatientInnen von einem Professionisten zu einem anderen überwiesen werden können und die Daten vollautomatisch übertragen werden – dann kann von einem digitalisierten Ende-zu-Ende-Prozess im Gesundheitswesen gesprochen werden, der maximalen Komfort für die PatientInnen, aber auch für die MitarbeiterInnen in den Gesundheitseinrichtungen bringt.
Grundlage der Vernetzung ist die standardmäßige Nutzung von digitalen Lösungen in den einzelnen Gesundheitsorganisationen selbst und zwischen diesen. Dazu muss das Rad nicht neu erfunden werden, sondern es werden jene Technologien eingesetzt, die sich schon in anderen Branchen als nützlich und sinnstiftend erwiesen haben. So bieten heute schon stark auf den Endnutzer ausgerichtete Branchen wie etwa der Tourismus einfach nutzbare online-Tools, die den Komfort der KundInnen steigern. Z.B. sind Online-Buchung, Online-Check-In inkl. das automatische Abrufen von persönlichen Daten in einer Maske (Name, Adresse, Zahlungsarten, etc.) nicht mehr aus dem Branchenalltag wegzudenken. Dies wird auch im Gesundheitswesen zum Standard werden.
In einem weiteren Workshop wurden Thesen zur Möglichkeiten und Potenzialen der Digitalisierung im heimischen Gesundheitssystem erarbeitet. Die abschließenden Ergebnisse beider Workshops werden am 25. Juni im OÖNachrichten Forum präsentiert.
Teilnehmer*innen des Workshops:
FH-Prof. MMag. Dr. Johanna Anzengruber, FH Oberösterreich
DGKP Friedrich Geyrhofer, MBA, Ordensklinikum Linz
Dr. Bernhard Hain, Wissenschaftsjournalist ORF
Mag. Michael Hauer, Academia Superior
Dr. Michael Heinisch, Vinzenz Gruppe
Mag. Georg Hrovat, Apothekerkammer Österreich
Annemarie Kramser, Vinzenz Gruppe
Nora Mack, BSc, MBA, Medizintechnikcluster OÖ, BizUp
Univ.-Prof. Dr. Michael Mayrhofer, Johannes Kepler Universität
Mag. Johann Minihuber, Vinzenz Gruppe
Katja Österreicher, Vinzenz Gruppe
Markus Petzl, disruptive
Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger, Katholische Privatuniversität Linz
Harald Schnidar, PhD, MBA, Scarlet Red
Dr. Claudia Schwarz, ACADEMIA SUPERIOR
Prim. Univ.-Prof. Dr. Norbert Sepp, Ordensklinikum Linz
Dir HR. Dr. Matthias Stöger, Amt der OÖ Landesregierung
Mag. Michael Wall, Patientenanwalt OÖ
Univ. Doz. Dr. Ansgar Weltermann, Ordensklinikum Linz
Moderation: Dr. Gertraud Leimüller und Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA von Winnovation
Das Projekt ist eine Kooperation von:
Predictive Futures – Die Vermessung der Zukunft
Im Rahmen des Jahresschwerpunktes auf „gesellschaftliche Folgen der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz“ organisiert ACADEMIA SUPERIOR mehrere Expertengespräche. Der Workshop „Digital Health: Der Wandel in der Praxis“ wurde in Kooperation mit der Vinzenz Gruppe und elisabethinen linz.wien organisiert.