Markus Hengstschläger bezieht als eines der sechs Mitglieder im FORBES-Weisenrat zum Spannungsfeld der persönlichen Freiheit in der österreichischen Gesellschaft Stellung. FORBES, Juli 2015
„Es gibt in Österreich wenige Dinge, die gleichzeitig so sehr gewünscht wie gefürchtet und so oft gefordert wie nachhaltig verhindert werden wie Autonomie.”
Vor wenigen Tagen habe ich bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion darüber debattiert, warum in Europa viele Institutionen wie die katholische Kirche oder die ehemaligen „Großparteien“ an Mitgliederzahlen abnehmen. Eine dabei aufgestellte Theorie war, dass Vereinigungen, die Regeln, Programme, manchmal sogar Vorschriften vorgeben, vielleicht einfach zu wenig in Betracht ziehen, dass ein durch Übereinkunft entstandenes Bild des „Guten“ halt nicht für alle und für jeden „gut“ sein muss.
Zu viel Autonomie führt vielleicht zum Verlust des gemeinsamen Netzes, des Verbindenden. Zu wenig Autonomie führt aber zum Mitgliederschwund. Soweit meine Theorie des Dilemmas. Eine entscheidende Gratwanderung für Vereine, Glaubensgemeinschaften, Parteien bzw. die Politik im Allgemeinen scheint die Beantwortung der Frage zu sein: „Wie halten wir es mit der Autonomie?“ Wie viel also darf der Einzelne frei entscheiden, wie weit darf er den Rahmen der Vorgaben der Gemeinschaft infrage stellen oder gar ignorieren, ohne dabei seine Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft gleich jedes Mal aufs Spiel zu setzen?
„Das höchste Gut des Menschen ist sein Recht, sich frei zu entscheiden.”
FREIHEIT UND IHRE KONSEQUENZEN
Die Regel „Jeder darf tun, was er will, wann, wie und wo er will, solange dabei andere bzw. die Gemeinschaft nicht zu Schaden kommen bzw. Nachteile erleiden“ erscheint nur auf den ersten Blick klar, eindeutig und einfach umsetzbar zu sein. In der Realität oder in der Praxis sind die Konsequenzen individuellen Handelns für andere bzw. für die Gemeinschaft oft nur mittelbar und schwer aus dem Stein der vielschichtig vernetzten Zusammenhänge zu meißeln.
Um auf das Thema der Bioethik zurückzukommen: Dass ein Mensch autonom entscheiden darf, seinem Leben ein Ende zu setzen, steht heute, vor allem auch nach den so wichtigen Arbeiten des österreichischen Psychiaters Erwin Ringel, nicht mehr zur Diskussion. Ob er dabei aber die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen darf, wenn er es selbst nicht mehr bewerkstelligen kann, ist nur einer von vielen Aspekten, die in der aktuellen österreichischen Sterbehilfe-Diskussion erörtert wurden. Ein Argument von vielen in dieser durchaus polarisiert geführten Auseinandersetzung war der Hinweis, doch auch an die Autonomie jener zu denken, die vielleicht im hohen Alter nur aus der Sicht anderer (und nicht aus ihrer eigenen) zur Last geworden sind. Als Angelina Jolie sich die Freiheit nahm, nach einem Gentest ihr Brustgewebe entfernen zu lassen, um damit ihr Brustkrebsrisiko wieder auf das der Allgemeinbevölkerung zu senken, wurde in die weltweit darüber geführte Diskussion auch das Argument eingebracht, doch auch daran zu denken, dass gesellschaftlicher Druck die Autonomie jener beschränken könnte, die sich in ähnlicher Situation nicht für eine solche prophylaktische Operation entscheiden und sich eventuell später bei Ausbruch einer Krebserkrankung mit der Argumentation konfrontiert sehen könnten, doch jetzt für die Gemeinschaft viel höhere Therapiekosten zu verursachen.
AUF EIGENE BEINE STELLEN
Laut George Orwell ist „Freiheit das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen“. Als ich heuer im Zuge der Novelle des österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetzes immer wieder gesagt habe, dass sich der Familien begriff in unseren Breiten nicht ändern wird, sondern bereits geändert hat, und sich Familien um Alleinerziehende, heterosexuelle und homosexuelle Partnerschaften bilden, stieß ich damit „Gott sei Dank“ auf viele offene Ohren. So wichtig und erfreulich für das Verständnis der Bedeutung von gesellschaftlicher Vielfalt und der Selbstbestimmung des Einzelnen Conchita Wurst oder z. B. auch die irische Volksabstimmung über homosexuelle Partnerschaften sind, so habe ich doch im Gespräch mit vielen Entscheidungsträgern in Österreich den Eindruck gewonnen, dass die Gewährung dieser Autonomie mittlerweile ohnedies in unserem Land außer Diskussion steht, wenn auch bei deren rechtlicher Sicherstellung auch in Österreich durchaus noch Luft nach oben ist. Da fällt es viel leichter, jene wenigen Zurufer zu ignorieren, die mich darauf hinwiesen, dass ich mit solchen Ansichten auch meine – wenn auch nur gefühlten – Zugehörigkeiten zu der einen oder anderen Gruppe aufs Spiel setze. Es muss an dieser Stelle eigentlich nicht ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Autonomie von Zurufern, welcher Art auch immer, auch auf keinen Fall beschränkt werden darf. Der deutsche Journalist, Erzähler und Theaterkritiker Theodor Fontane hat gesagt: „Es tut jeder gut, sich auf seine eigene Beine zu stellen, die Beine mögen sein, wie sie wollen.“ Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er mir zugestimmt hätte, die Autonomie von Rauchern dann und dort (und nur dann und dort) einzuschränken, wo die Gesundheit von Passivrauchern auf dem Spiel steht.
ZUKÜNFTIGE TRAGWEITE
Eine offensichtlich noch komplexere Ebene erreicht die Autonomiediskussion dann, wenn es um politische Entscheidungen mit internationaler bzw. langfristiger zukünftiger Tragweite geht. Hier könnten unzählige Dispute aufgezählt werden, die auch Österreich gerade beschäftigen. Kann ein Land in der EU sagen, wir wollen zwar die Gemeinschaft nicht verlassen, werden unsere Schulden an diese aber nicht zurückzahlen, obwohl andere EU-Länder durch rigorose Sparmaßnahmen ihr Streben nach Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft auch faktisch untermauert haben? Ob es nun um den „Grexit“ geht oder um Atomenergie oder Gentechnikvorschriften, die Grundfrage nach der Autonomie von EU-Mitgliedsstaaten scheint immer die gleiche zu sein. Und wenn die Bündnisgrünen anlässlich des globalen TTIP-Aktionstages (TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership zwischen der EU und den USA, Anm.) den Erhalt der kommunalen Selbstbestimmung fordern oder der russische Präsident Putin versucht, die Annexion der Krim durch russische Truppen auf das völkerrechtlich verankerte Recht aller Völker auf Selbstbestimmung zu stützen, dann erreicht die Autonomiediskussion eine noch höhere, über die Grenzen der EU hinausgehende Ebene. Und die Abwägung der Autonomie eines einzelnen Menschen bei der Frage, wo auf diesem Planeten er leben will, nimmt in Anbetracht der offensichtlichen Hilflosigkeit der politischen Entscheidungsträger im Zusammenhang mit den ständig wachsenden Flüchtlingsströmen Dimensionen von weltweiter Relevanz an. Wie sehr uns das alles ganz konkret auch in Österreich betrifft, ist uns hoffentlich nicht erst seit den national geführten politischen Auseinandersetzungen um das Errichten von Zeltlagern bewusst.
POLITIKVERDROSSENHEIT – WAS TUN?
In Anbetracht all dessen erscheint mir persönlich die ganz aktuell in den USA geführte Auseinandersetzung um die Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal – eine Frau, die als Weiße geboren wurde, sich aber als Schwarze ausgibt, nur weil sie mit einem Schwarzen einen Sohn hat und selbst mit schwarzen Adoptivgeschwistern aufwuchs – eigentlich nur ein Nebenschauplatz des globalen Autonomiedisputs zu sein. Die Tatsache, dass sie einen afroamerikanischen Freund als ihren Vater vorstellt, ihre Frisur verändert und ihre Haut im Sonnenstudio bräunt, stellt aber offensichtlich trotzdem aktuell einen halben Kontinent vor die Frage, ob die Selbstbestimmung des Einzelnen auch die Freiheit beinhaltet, seine Hautfarbe zu ändern („trans race“-Identität).
Nun aber zurück zu meiner eingangs erwähnten Podiumsdiskussion: Was könnte man der österreichischen Politik genauso wie etwa einzelnen Parteien raten, damit vielleicht nicht gleich ihre Mitgliederzahlen wieder steigen, aber zumindest die allgemeine Politikverdrossenheit und das Misstrauen gegenüber politischen Entscheidungsträgern in unserem Land wieder abnimmt? Ein aus meiner Sicht unverzichtbarer Aspekt dabei ist, die Bevölkerung ganz aktiv in die Diskussion darüber zu involvieren, was Autonomie bedeutet, welche Rechte und Pflichten damit verbunden sind, wo sie mit Klauen verteidigt werden muss und wo und wann ihr im Interesse anderer Grenzen gesetzt werden müssen.
„Beinhaltet die Selbstbestimmung des Einzelnen auch das Recht, die Hautfarbe zu ändern?”
Ein in unserem Land manifestiertes Verständnis um die Bedeutung dieser Aspekte wäre vielleicht die Taschenlampe in der für die Bevölkerung oft so dunklen Nacht politischer Entscheidungen. Ob ihre Strahlkraft ausreichen würde, um stets alle aktuellen Autonomiedispute der österreichischen Diskussionslandschaft ausreichend beleuchten zu können, sei einmal dahingestellt. Darf ein SPÖ-Landeshauptmann nun eine Koalition mit der FPÖ bilden, auch wenn es die Bundespartei gar nicht goutiert?
Soll wiederum umgekehrt der FPÖ-Bundesparteiobmann Landesparteipolitiker entthronen? Wie viel finanzielle Selbstbestimmung darf ein Bundesland haben bzw. kann man ein Bundesland in Konkurs gehen lassen? Oder warum haben österreichische Schulen immer noch viel zu wenig Finanz‑, Personal- oder Curriculumsautonomie? Die Liste aktueller österreichischer Streitfälle rund um Themen wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit scheint schier unendlich erweiterbar. Es ist auch eine österreichische, aber genauso eine globale Problemstellung. Die Politik muss für und mit den Bürgern eine eingehende Diskussion über Autonomie auf ihre Agenda setzen, wenn sie ihre Entscheidungen nachvollziehbarer machen will und den Draht zu den Wählern nicht verlieren will.
Den Original-Artikel vom Wissenschaftlichen Leiter der ACADEMIA SUPERIOR in der Juli-Ausgabe von FORBES (pdf) lesen Sie hier.