SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM: Rede von Heiner Geißler

Hein­er Geißler führt vor Augen, dass Trans­parenz und Sol­i­dar­ität entschei­dend sind.

Transkript der Rede

Frau Bern­hard, Herr Lan­deshaupt­mann, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich bedanke mich natür­lich für die Ein­ladung, ich komme immer gerne nach Öster­re­ich. Wenn ich in Berlin gefragt werde, „Wo kom­men Sie her?“ sage ich, ich bin gebür­tiger Vorderösterreicher.

Vorderöster­re­ich hat früher zu Öster­re­ich gehört, es ist näm­lich das Gebi­et zwis­chen Bre­genz und Freiburg im Breis­gau und wurde unter Napoleon an die badis­chen, würt­tem­ber­gis­chen und bayrischen Fürsten verteilt, die wur­den dadurch befördert, zu Großher­zo­gen, zu Köni­gen (Würt­tem­berg und Bay­ern), durch Lan­draub unter der Ägide der Besatzungs­macht, Napoleon. Deswe­gen sage ich immer, um die Berlin­er zu ärg­ern, ich bin gebür­tiger Vorderöster­re­ich­er. Und außer­dem stammt meine Fam­i­lie aus dem Ziller­tal – das ist nun wirk­lich wahr – und sind aus dem Ziller­tal dann nach Ober­schwaben ausgewandert.

Ich bedanke mich für die fast voll­ständi­ge Wieder­gabe meines Lebenslaufes, sowohl bei Frau Bern­hard, wie beim Her­rn Lan­deshaupt­mann. Ich darf in aller Beschei­den­heit hinzufü­gen, ich bin zurzeit auch noch Vor­sitzen­der des südpfälz­er Gleitschirm­fliegerclubs. Also das ist für mich fast so wichtig, wie alles andere. Und die Alpen sind ja nun ein Dora­do für diesen schö­nen Sport.

Denken sei die schw­er­ste Arbeit, hat Hen­ry Ford II ein­mal gesagt: Das ist ja wahrschein­lich auch der Grund, warum sich so wenig Leute damit beschäfti­gen. Sie hier in Gmunden und was Sie hier ger­ade auch vorgestellt haben mit Ihrer Acad­e­mia ist natür­lich der Gegen­be­weis für das, was hier ver­mutet wird; und ist eben auch zwin­gend notwendig. Ich kann das jet­zt im Einzel­nen gar nicht dar­legen aber wenn man die Weltläufe betra­chtet, dann muss man eben erken­nen: Das, was auf der Erde geschieht, ist das Pro­dukt ein­er geisti­gen Auseinan­der­set­zung. Je nach­dem, wer diese Auseinan­der­set­zung gewin­nt, bes­timmt anschließend, wie die Welt sich gestaltet.

Die Halb­w­ertzeit des Wis­sens, wovon wir ger­ade ein paar Beispiele gehört haben, liegt heute bei fünf Jahren. Vor hun­dert Jahren, zu Kaiser Wil­helms Zeit­en, waren das hun­dert Jahre, das heißt die Leute damals haben dop­pelt so viel gewusst, wie die Leute zu Napoleons Zeit­en (ob der Kaiser Wil­helm dop­pelt so viel gewusst hat, das kann man in Frage stellen), dann hat es noch fün­fzig Jahre gedauert, dann noch zehn, jet­zt sind es fünf Jahre. Amerikanis­che Forsch­er haben aus­gerech­net, dass allein in den näch­sten zehn Jahren mehr an neuen Infor­ma­tio­nen erar­beit­et wird, als in den zurück­liegen­den 2.300 Jahren seit Demokrit und Aris­tote­les. Alle drei Minuten gibt es eine neue medi­zinisch-wis­senschaftliche Erken­nt­nis, alle fünf Minuten drei neue chemis­che Formeln. Dieses gigan­tis­che Wis­sen ist zusam­menge­fasst in inter­na­tionalen Daten­sys­te­men, im Inter­net mit über ein­er Bil­lion Web­seit­en, Face­book, Twit­ter, Blogs. Man kann mit Mausklick inner­halb von fünf Minuten zehn­tausende von Leuten zusam­men­brin­gen. Jeden Tag 22 Mil­liar­den Zeitungs­seit­en sind präsent, 25 Mil­lio­nen Büch­er, ihre Inhalte, die Bilder, die Infor­ma­tion von 15.000 Fernsehkanälen ste­hen den Men­schen zur Verfügung.

Das ist die neue Welt! Und die lässt sich nicht mehr zurück­drehen, son­dern sie wird sich weit­er­en­twick­eln in die Zukun­ft. Die Frage ist nur, diese Welt, die den Men­schen in einem bish­er nicht gekan­nten Umfange Flex­i­bil­ität, Mobil­ität, lebenslanges Ler­nen, aber auch ständig sich max­imierende Unsicher­heit ver­mit­telt, was soll das für eine Welt sein? Das ist die entschei­dende poli­tis­che und ethis­che Frage.

Der langjährige Vor­standsvor­sitzende von Bay­er Lev­erkusen, Hansen, hat ein­mal gesagt, die Amo­ni­aksyn­these war die Voraus­set­zung für die Salpeter­säure, die massen­hafte Pro­duk­tion. Die Salpeter­säure, das ist die Grund­lage für Düngemit­tel, damit kann man Hunger­snot bekämpfen, aber man kann damit auch Bomben bauen. Und man kann mit Bomben (Sprengstoff), Tun­nels bohren, Tun­nels durch das Gebirge brin­gen, Straßen bauen, aber man kann damit auch Bomben bauen und damit Men­schen ver­let­zen und töten.

Nicht das Wis­sen, das Denken, ist gefährlich oder schädlich, son­dern immer das, was der Men­sch daraus macht. Und diese Frage, die kann man nicht nur mit der gängi­gen Intel­li­genz beant­worten, die bei uns ganz hoch im Kurs ste­ht; mit der math­e­ma­tis­chen Intel­li­genz oder der ökonomis­chen Intel­li­genz, son­dern wir brauchen andere Ein­sicht­en, zusät­zliche Intel­li­gen­zen, so würde ich das ein­mal sagen.

Wenn wir die Ereignisse der let­zten Jahre ein­mal Revue passieren lassen und nur ein paar Punk­te her­aus­greifen – weil wir auch zu der Frage Stel­lung nehmen müssen: Wie gehen wir eigentlich um mit der Bewe­gung in unser­er Bevölkerung? In Deutsch­land, auf der ganzen Welt, in Afri­ka, die Leute gehen auf die Straße, sie bewe­gen sich, sie wen­den sich gegen den Staat, gegen die Demokratie. Was ist eigentlich los? Warum ist das so? Wenn wir uns ein­mal drei, vier Ereignisse vor Augen hal­ten, die man beliebig ver­mehren kön­nte, da kann man leicht erken­nen: Was ist diesen Ereignis­sen gemein­sam? Die Finanzkrise vor zwei Jahren, mit zwei Bil­lio­nen Dol­lar ver­bran­nt, das Ver­mö­gen, das Eigen­tum von Mil­lio­nen Men­schen ver­nichtet. Durch einige wenige auf dieser Erde, die die Macht hat­ten, und die Fähigkeit hat­ten, falsch zu denken. Math­e­ma­tis­che, ökonomis­che Intel­li­genz braucht man, das ist klar, aber alles ist relativ.

Sie ken­nen vielle­icht die Geschichte von dem Lehrer, der hat einen sehr schlecht­en Schüler, nach­dem dieser die Schule ver­lassen hat­te, auf der Straße getrof­fen. Der kam aber gut gek­lei­det daher, hat einen dick­en Daim­ler gefahren, und dann sagt der Lehrer zu dem ehe­ma­li­gen Schüler: „Ihnen geht’s ja gut!“ Er war ganz erstaunt. „Was machen Sie denn?“ Da sagt er, „Ja, mir geht’s gut. Ich fab­riziere Kisten für drei Euro das Stück und verkaufe die Kiste für fünf Euro. Von den zwei Prozent kann ich gut leben.“

Das ist eine Form ökonomisch-prak­tis­ch­er Intel­li­genz. Wenn unsere Unternehmen so arbeit­en wür­den, wären sie wahrschein­lich auch nicht erfol­gre­ich. Aber auf der anderen Seite, die über­steigerte ökonomis­che, fiskalis­che Intel­li­genz, die zu dieser Katas­tro­phe geführt hat, ist darauf zurück­zuführen, dass sie gar nicht mehr richtig denken kon­nten, die 50.000 Bro­ker, die Banker, Rat­ing Agen­ten, die immer mehr Geld woll­ten, immer mehr Geld, immer mehr Geld. Und die Grun­dregeln der Men­gen­lehre vergessen haben: Wenn Sie aus ein­er Kasse, in der 3.000 Euro sind, 4.000 her­aus­nehmen, dann müssen Sie wieder 1.000 hineingeben, damit nichts drin ist. (Das dauert ein biss­chen lange bei Ihnen.) Die haben aber gedacht, wenn sie da 1.000 Euro her­aus­nehmen, dann haben sie 5.000 Euro, oder 6.000.

Was ist passiert? Die Gier nach Geld hat den Leuten regel­recht das Hirn zer­fressen. Sie waren unfähig, richtig zu denken, weil ihnen etwas anderes gefehlt hat, näm­lich ethis­che Intel­li­genz, soziale Intel­li­genz, ja sog­ar kreative Intel­li­genz. Intel­li­genz ist immer nur dann richtig, wenn es eine gebün­delte Intel­li­genz ist und eben nicht nur ein­seit­ig. Das heißt, diese Finanzkrise ist möglich gewor­den, durch ein falsches Denken, ein falsches ökonomis­ches Denken. Dadurch, dass ein Denker die let­zten zwei Jahrzehnte in der Wirtschaft­spoli­tik, in der Welt, aber vor allem auch in Europa und in den vere­inigten Staat­en, beherrscht hat.

Wenn Sie sich ein­mal fra­gen, welch­er Men­sch hat eigentlich in den ver­gan­genen zwei Jahrzehn­ten die Welt­geschichte am meis­ten bee­in­flusst? Also Jesus war es nicht, John F. Kennedy auch nicht, Barack Oba­ma auch nicht, noch nicht ein­mal Kon­rad Ade­nauer oder irgend­je­mand ander­er. Am meis­ten bee­in­flusst wurde das Welt­geschehen durch einen Denker, der auch falsch gedacht hat, näm­lich durch Mil­ton Fried­man, der eine völ­lig falsche Wirtschaft­s­the­o­rie pop­u­lar­isiert hat und die Wirtschaft­sjour­nal­is­ten, die Wirtschaftsmin­is­ter und die Poli­tik­er in den let­zten zwei Jahrzehn­ten beherrscht hat. Möglichst wenig Staat und so viel Markt wie möglich. Der Markt regelt alles. Man braucht nur den Markt geschehen lassen, die Poli­tik darf den Markt nicht stören. So kam die Finanzkrise zus­tande. Und dann musste die Poli­tik die Finanzen ret­ten. Nicht die Poli­tik, son­dern die Steuerzahler: In Deutsch­land mit einem Ret­tungss­chirm von über 500 Mil­liar­den Euro, 120 Mil­liar­den Euro für die größte Bank neben der Deutschen Bank in Deutsch­land, Real Hypo Estate. Weil die schon so groß war, dass man sie nicht mehr Pleite gehen lassen kon­nte, weil son­st Mil­lio­nen von Men­schen ihre Sparein­la­gen und ihr Ver­mö­gen ver­loren hätten.

Diese Welt ist nicht in Ord­nung. Warum ist sie nicht in Ord­nung? Nicht weil das Kap­i­tal als solch­es schlecht wäre. Man kann gar nicht genug davon haben. Aber das Kap­i­tal hat den Men­schen zu dienen und nicht die Men­schen zu beherrschen. Heute ist das aber umgekehrt, das Kap­i­tal beherrscht die Men­schen und die Men­schen haben den Kap­i­tal­in­ter­essen zu fol­gen, mit der Folge ein­er durchökonomisierten Gesellschaft, im Gesund­heitswe­sen, im Bil­dungswe­sen, wo Sie hinkommen.

Die Ölplat­tform im Golf von Mexiko, wo über eine Mil­lion Ton­nen Öl in dieses Meer aus­ge­flossen ist, diese Ölplat­tform ist explodiert. Sie hätte gar nicht gebaut wer­den dür­fen nach den Vorschriften der amerikanis­chen Admin­is­tra­tion, weil sie zu unsich­er war. Sie ist trotz­dem gebaut wor­den. Warum? Wegen der Prof­ite, die man mit dieser Ölplat­tform erzie­len wollte, ohne Rück­sicht auf das Meer und seine Bewohn­er und die Men­schen. In Chile sind 30 Bergleute 60 Tage sieben­hun­dert Meter im Berg­w­erk einges­per­rt gewe­sen. Dieses Berg­w­erk hätte nie in Betrieb genom­men wer­den dür­fen, selb­st nach den bergrechtlichen Vorschriften der chilenis­chen Regierung. Es wur­den trotz­dem Men­schen in dieses Berg­w­erk 700 Meter in die Tiefe hin­un­tergeschickt. Warum? Weil man auch mit diesem mar­o­den Bergew­erk Prof­ite machen wollte. In Köln ist plöt­zlich ein großes Gebäude mit­samt dem Stadtarchiv in einem Loch ver­schwun­den, war ein­fach weg. Zwei Leute dazu – tot. Warum? Weil beim U‑Bahn Bau in Köln die zuständi­ge Fir­ma den Beton falsch gemis­cht hat. Warum hat sie das gemacht? Wie sie sich einen höheren Prof­it dabei errech­net hat, wenn sie schlecht­en Beton ver­wen­det. Men­schen und fremdes Eigen­tum war ihnen egal. Fukushi­ma in Japan: Der Tsuna­mi und das Erd­beben das war kein Kataklysmus. Die alten Griechen haben den Wel­tenbrand und die vor­ange­hen­den Über­schwem­mungen als Kataklysmus beze­ich­net, also die absolute Super-Gau-Katas­tro­phe. Dieser Kataklysmus, das Erd­beben und der Tsuna­mi waren nicht das Ergeb­nis falschen Denkens, aber dass dieses Kernkraftwerk heute eine Kern­schmelze hat, hat diesel­ben Ursachen. Denn es war von den Sicher­heits­stan­dards aus­gelegt auf eine Erd­bebenge­fahr von 8,2 auf der Richter­skala. Die wussten aber genau, dass am Rande dieser Insel, diesem Graben, wo die zwei Plat­ten aufeinan­der reiben, 9,5 möglich ist. Aber sie haben diese Kraftwerke nicht auf 9,5 aus­gelegt, obwohl sie es wussten. Warum haben sie das nicht getan? Weil es zu teuer war. Weil sie Geld sparen woll­ten. Dann haben sie ges­part an der Sicher­heit und auf Kosten der Menschen.

Nun glauben Sie ja nicht, dass die paar Beispiele, die ich erzählt habe, denen ja allen große denkerische Entwick­lun­gen zugrunde liegen, Erfind­un­gen, tech­nol­o­gis­che Wun­der­w­erke – glauben Sie ja nicht, dass die Men­schen dies ein­fach so hin­nehmen und dass sie das nicht so sehen, oder nicht so sehen kön­nen, wie ich das ger­ade dargestellt habe. Die wis­sen das ganz genau. Und zwar ger­ade deswe­gen, weil wir eben in ein­er Medi­enge­sellschaft leben, das ist ger­ade zum Schluss hier noch ein­mal gesagt wor­den; ein­er Medi­enge­sellschaft mit den Möglichkeit­en, wie ich sie ger­ade geschildert habe, und die Leute sind infolge dessen informiert. Und Sie sehen aber – hin­ter den Ereignis­sen auf dieser Erde – die Inter­essen, die dahin­ter ste­hen. Und deswe­gen habe wir – ich habe nur die Umfra­gen aus Deutsch­land – aber es ist in den Vere­inigten Staat­en und in ganz Europa nicht viel anders – eben ein Phänomen, das klar macht, warum die Men­schen heute auf die Straße gehen.

Ich habe als Gen­er­alsekretär der CDU im Jahre 1979 dem demoskopis­chen Insti­tut Allens­bach, Frau Nolle-Neu­mann, einen Auf­trag gegeben. Sie soll­ten eine Frage stellen und dann die Leute antworten lassen. Die for­mulieren immer Sätze und der Satz, den sie abge­fragt haben, der lautete: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch mir gut. Stimmt der Satz, oder stimmt der Satz nicht?“ Damals haben über 80% der Leute gesagt, ja, der Satz stimmt. Heute sagen es noch 17%, das heißt 83% der Men­schen haben ihr Ver­trauen in das wirtschaftliche Sys­tem ver­loren und sie über­tra­gen natür­lich dieses Mis­strauen gegen das wirtschaftliche Sys­tem auf die Poli­tik, weil sie völ­lig zurecht sagen, die Poli­tik hat die Ver­ant­wor­tung dafür zu sor­gen, dass die Ökonomie nicht eine solche Gewalt, eine solche Macht über die Men­schen gewin­nt, dass es hier auf Men­schen­leben, auf Sicher­heit, auf Lebens­be­din­gun­gen gar nicht mehr ankommt: Die Tod­sünde des Kap­i­tal­is­mus, des kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems, das wis­sen die Men­schen. Deswe­gen sagen sie, aha, jet­zt wer­den da Strom­trassen gebaut, ein Flughafen, ein Bahn­hof soll gebaut wer­den, Kranken­häuser sollen dicht gemacht wer­den, oder was auch immer, wom­it die Men­schen kon­fron­tiert wer­den. Dann ver­trauen sie nicht mehr der Demokratie, den demokratis­chen Entschei­dun­gen der Par­la­mente, mis­strauen ihnen, weil sie nicht wis­sen, ob nicht vielle­icht doch andere Inter­essen dahin­ter stehen.

Bei Stuttgart 21 hat natür­lich auch kom­mu­nika­tive Intel­li­genz gefehlt, die gehört auch dazu, dass man näm­lich die Leute richtig informiert über das, was man will. Wenn man ein solch­es Pro­jekt von den maßge­blichen Leuten mit der Über­schrift ver­sieht „Von Brüs­sel über Berlin bis Stuttgart“, also wir brauchen unbe­d­ingt eine europäis­che Magis­trale (wobei Sie sich aus­rech­nen kön­nen wie viele Leute in Ober­schwaben wis­sen, was eine Magis­trale ist; Sie in Oberöster­re­ich wis­sen das natür­lich, aber in Ober­schwaben … Magis­trale, da denken die an Bürg­er­meis­ter oder was weiß ich). Man brauchte aber eine europäis­che Magis­trale Paris-Stuttgart-Bratisla­va. Da haben die Leute in Sil­len­buch oder Hes­lach, das sind Vororte von Stuttgart, sich gefragt, ja wer von uns will denn eigentlich nach Bratisla­va? Und dafür sollen12 Mil­liar­den Euro ver­baut wer­den und der Bahn­hof gewalt­tätig um 45 Grad gedreht, quer in das Nesen­bach­tal gelegt, mit allen Kom­p­lika­tio­nen, die damit ver­bun­den sind. Da kann ja etwas nicht richtig sein. Und wer kriegt eigentlich die Grund­stücke? Da wer­den näm­lich 100 Hek­tar Grund­stücks­fläche frei, weil die Gleise, die bish­er ober­halb in den Bahn­hof hineinge­führt haben, jet­zt in den Boden gelegt wer­den, aber nicht mehr von vorne kom­mend, son­dern von links oder rechts, da sind aber lauter Berge und da müssen 30 Kilo­me­ter Tun­nel gebaut wer­den. Da haben sich die Leute gesagt, also so dumm sind wir auch nicht. Irgend­wo kann da ja etwas nicht richtig sein. Wir möcht­en gerne wis­sen, was da los ist, und sie haben keine Infor­ma­tion bekom­men. Dann sind sie auf die Straße gegan­gen. Ganz nor­male Leute, Stuttgarter Bürg­erin­nen und Bürg­er. Mein Sohn ist Che­farzt für Innere Medi­zin in ein­er großen Klinik in der Nach­barschaft, der war auch Geg­n­er von Stuttgart 21 mit­samt sein­er ganzen Fam­i­lie. Das wer­den wir noch oft erleben und zwar ganz ein­fach deswe­gen, weil Grund­lage dieser Proteste dieses fehlende Ver­trauen in die poli­tis­che Sub­stanz bedeutet.

Die Leute kön­nen auch denken, sie sind informiert, sie lassen sich nicht mehr ein X für ein U vor­ma­chen. In Stuttgart ist die Sache eskaliert. Zum Schluss ist dann die Polizei und die Bürg­erin­nen und Bürg­er aufeinan­der los­ge­gan­gen mit Pfef­fer­spray und Wasser­w­er­fern, etwas was also im Schwaben­land bis dahin völ­lig undenkbar war. Unter der Ägide von Ober­bürg­er­meis­ter Rom­mel, von dem Sie sich­er auch schon gehört haben, gab es in ganz Stuttgart nicht einen einzi­gen Wasser­w­er­fer und die hat man dann von außen geholt, als man geglaubt hat, das müsse man jet­zt bekämpfen. Das ist eskaliert, hun­dert Ver­let­zte, ein­er mit Blind­heit, lebenslang, durch Wasser­w­er­fer die Augen zusammengeschossen.

Die Sache eskalierte und dann hieß es, also jet­zt müssen wir ver­suchen, dass wir das wieder in vernün­ftige Bah­nen brin­gen. Dann haben sie mich gebeten, bei­de Seit­en: die Grü­nen und die Lan­desregierung. Ich sage es nur deswe­gen, weil wir natür­lich auch aus einem solchen Dilem­ma ler­nen müssen und weil wir auch her­auskom­men kön­nen, denn es kom­men ja noch mehr solche Pro­jek­te, jet­zt ger­ade im Zusam­men­hangt mit dem Ausstieg aus der Atom­en­ergie, da müssen wir wis­sen, wie man solchen Entwick­lun­gen begeg­net. Ich habe gesagt, das geht nur unter fol­gen­den Bedin­gun­gen: Erstens, alle an einen Tisch. Min­is­ter­präsi­dent, Min­is­ter, Bah­n­vor­stand, Ober­bürg­er­meis­ter müssen von ihrem hohen Ross herunter und set­zten sich an einen Tisch mit dem Altkom­mu­nis­ten Stock­er und mit den Grü­nen und wer da son­st noch als ständig Verdächtige bei diesen Demon­stra­tio­nen teil­nehmen, mit dem Aktions­bünd­nis. Auf ein­er Ebene, gle­ich­berechtigt wird ein Fak­tencheck gemacht: Argu­ment gegen Gege­nar­gu­ment. Und die andere Seite, die muss in die Lage ver­set­zt wer­den, auf Augen­höhe zu argu­men­tieren. Das heißt, im Lan­deshaushalt von Baden-Würt­tem­berg wurde die Summe von 500.000 Euro bere­it­gestellt, um die Gutachter und die Sachver­ständi­gen der Pro­jek­t­geg­n­er finanzieren zu kön­nen. Denn die  Bahn und das Land, die hat­ten ja genü­gend Geld. Drit­tens, diese ganze Diskus­sion muss total trans­par­ent gemacht wer­den. Eines der Haup­tar­gu­mente, warum die Leute der Poli­tik nicht mehr trauen, ist doch, dass sie sagen, da wird alles hin­ter ver­schlosse­nen Türen aus­gekun­gelt und dann kommt es irgend­wann ins Par­la­ment. Dann ist es aber schon entsch­ieden, auch die Abge­ord­neten haben gar nichts mehr zu melden. Von Anfang an: alles Beteili­gen an dieser Argumentation.

Wir haben diese Schlich­tung geöffnet für das Fernse­hen. Phönix hat von der ersten bis zur let­zten Minute die Schlich­tung über­tra­gen, über eine Mil­lion Leute haben da zuge­se­hen, 500.000 haben im Inter­net zuge­se­hen – wir haben das ins Inter­net gestellt – pub­lic view­ing – totale Trans­parenz, dieser Fak­tencheck. Als die Schlich­tung begann, waren 26% der Leute für den Tief­bahn­hof und 60% dage­gen. Nach der Schlich­tung, bevor ich über­haupt etwas zusam­men­fassend gesagt hat­te, war es ger­ade umgekehrt, waren 58% für den Tief­bahn­hof und nur noch 30% dage­gen. Die Infor­ma­tion über die Fak­ten hat zur Bewusst­seins­bil­dung entschei­dend beige­tra­gen. Und deswe­gen, wenn man solche Pro­jek­te hat, muss man wis­sen, wie man mit ihnen umge­ht und dafür ist dieses Stuttgart 21, die Schlich­tung, ein Mod­ell. Nur kam natür­lich diese Schlich­tung, das muss man auch sagen, vier bis fünf Jahre zu spät, denn die Alter­na­tive, die kon­nte nicht mehr richtig disku­tiert werden.

Weil in Deutsch­land läuft die Sache anders als in der Schweiz. In der Schweiz kommt die Idee, dann wird über die Idee disku­tiert – öffentlich – lange genug, und dann wird abges­timmt, so wie Sie das in Zwen­ten­dorf auch gemacht haben. Dann wer­den die Pläne zur Diskus­sion gestellt, Alter­na­tiv­pläne, auch Pläne der Nul­l­lö­sung. Dann wird über die Pläne disku­tiert und anschließend wieder abges­timmt, und dann wird gebaut. So ist der Got­thard Tun­nel gebaut wor­den, unter diesen Voraussetzungen.

In Deutsch­land ist das umgekehrt. Das heißt, da bes­timmt der Staat, auch der Land­tag, die Par­la­mente, die Regierung, oder die Unternehmen. „Das machen wir!“ Der Flughafen wird gebaut, der Bahn­hof wird gebaut, bas­ta! Oder ein Unternehmen, oder sog­ar ein Bauer, der einen Hüh­n­er­stall am Dor­frand erricht­en will. Wir machen das. Und dann kom­men die Plan­fest­stel­lungsver­fahren, da wer­den die Leute ange­hört, aber sie kön­nen nicht mitbes­tim­men, son­dern sie wer­den „beschieden“, von oben. Es wird ihnen gesagt von der Behörde, ihr habt Recht oder ihr habt Unrecht. Dann kön­nen sie möglicher­weise noch kla­gen vor den Gericht­en und dann wird ihnen wieder von oben beschieden: So wird’s gemacht und so wird’s nicht gemacht. Mit dieser Meth­ode wer­den wir in Europa die gewiss notwendi­gen ökonomis­chen und tech­nis­chen Entwick­lun­gen nicht mehr bewälti­gen können.

Wir brauchen eine neue Form der direk­ten Bürg­er­beteili­gung, wir brauchen stärkere Ele­mente der unmit­tel­baren Demokratie, nicht die Abschaf­fung der repräsen­ta­tiv­en Demokratie. Zum Beispiel am Ende eines Fak­tenchecks kann auch das Par­la­ment abstim­men, das muss keine Volksab­stim­mung sein. Über die Einzel­heit­en kann man immer disku­tieren. Aber so, wie es jet­zt ist, kann es zumin­d­est in Deutsch­land nicht bleiben. Das ist das Faz­it aus dem, was wir mit dem Bahn­hof erlebt haben.

Aber ich komme zurück auf die Ursache. Wir wer­den diese Protes­ten­twick­lung in der Zukun­ft ver­stärkt haben, wenn wir nicht die Ursache beseit­i­gen, dass näm­lich die Men­schen wieder langsam das Ver­trauen gewin­nen in die Poli­tik. Zum Beispiel in der Beant­wor­tung der Frage: „Kön­nen sich die demokratisch gewählten Regierun­gen und Par­la­mente gegen die Macht der Finanzmärk­te durch­set­zen?“ Und diese Frage, die müssen Sie alle miteinan­der, auch der Herr Lan­deshaupt­mann und ich, alle, mit „nein“ beant­worten. Sie kön­nen sich nicht durchsetzen.

Die G20 Staat­en haben die Vorschläge erar­beit­et für eine Reform der inter­na­tionalen Finanzstruk­tur. Kaum ein einziger dieser Vorschläge ist bish­er real­isiert wor­den. Wir haben unglaubliche Exzesse auf dieser Erde. Wir haben einen börsen­täglichen Umsatz von zwei Bil­lio­nen Dol­lar – jeden Tag. Zwei Bil­lio­nen Dol­lar. Das reicht gar nicht, da wer­den nochmal hun­derte von Mil­liar­den hin- und hergeschoben um hun­dert­s­tel Prozent­punk­te Gewinne her­auszuschin­den, die dann – man soll’s nicht glauben – mit­ten in Europa steuer­frei geparkt wer­den in den Off­shore Cen­ters: Kanalin­seln, Schweiz, Liecht­en­stein, kleines Walser­tal; ein biss­chen weit­er weg: Kaimanin­seln, Bermu­dain­seln – um dann am anderen Tag in dieses „glob­al gam­bling“ einge­speist zu wer­den, in dieses glob­ale Spiel der Speku­lanten mit Devisen und Derivat­en, woraus diese gesamte, gigan­tis­che Finanzin­dus­trie ent­standen ist, mit der wir es heute zu tun haben.

Im Jahre 1980 lag das Welt-Brut­tosozial­pro­dukt bei 12 Bil­lio­nen Dol­lar. Die Geld­menge, die auf der Welt vorhan­den war, angelegt wie auch immer, betrug eben­falls 12 Bil­lio­nen Dol­lar, das heißt, sie entsprach der realen Ökonomie. Heute haben wir ein Welt-Brut­tosozial­pro­dukt von 50 Bil­lio­nen Dol­lar. Das ist okay, es ist die Weltwirtschaft gewach­sen. Aber wir haben eine Geld­menge von 150 Bil­lio­nen Dol­lar, das heißt, 100 Bil­lio­nen Dol­lar haben keinen entsprechen­den ökonomis­chen Gegen­wert auf dieser Erde. Es ist frei floa­ten­des Geld. Und dieses Geld befind­et sich im Besitz und in der Gewalt, so muss man schon sagen, von 50.000 Bro­kern, Invest­men­t­a­gen­ten, Invest­ment­bankern. Sie bes­timmten, was mit diesem Geld geschieht. Kein Par­la­ment, nicht die Regierung. Sie sind nicht in der Lage sich gegen den Börsen­platz in Lon­don durchzuset­zen, zum Beispiel, oder gegen den immer noch vorhan­de­nen mehrheitlichen Wider­stand im Kongress in den Vere­inigten Staat­en durch die Republikaner.

Wir müssen jet­zt eine Antwort geben – und ich will das tun – auf diese Fra­gen, die ich aufge­wor­fen habe. „Wie soll es weit­erge­hen?“ Und da ist zum Beispiel ein „Think Tank“ von entschei­den­der Bedeu­tung. Denn wir haben ein Vor­bild, das auch durch einen Think Tank ent­standen ist.

Aris­tote­les hat ein­mal gesagt, Poli­tik sei nichts anderes, als das Bemühen, das geord­nete Zusam­men­leben der Men­schen zu ermöglichen. Und dann kommt es auf die Frage an, was ist die richtige Ord­nung? Und in der Antike hat­te man die Pax Romana. Eine Frage, mit der sich die Men­schen beschäfti­gen, seit sie über­haupt denken kön­nen. Die Philosophen aller Zeit­en haben sich darüber Gedanken gemacht: die Pax Romana, die Zwei-Reiche-Lehre im Mit­te­lal­ter, L‘état c‘est moi, die absolute Monar­chie der Bour­bo­nen. Die Kom­mu­nis­ten hat­ten eine Ord­nungsvorstel­lung, die Nazis hat­ten eine Ordnungsvorstellung.

Was haben wir für eine Vorstel­lung von der richti­gen Ord­nung? Diese Frage wird zurzeit in der Welt­poli­tik aber auch in Deutsch­land –  soweit ich sehe auch in Öster­re­ich – nicht beant­wortet, wie die richtige Ord­nung ausse­hen soll. Alle sind immer noch ver­haftet in diesem kap­i­tal­is­tis­chen Denken. Es war näm­lich in Deutsch­land gefährlich, weil durch die Wiedervere­ini­gung die Ost­deutschen in dieses vere­inigte Land gekom­men sind und denen haben die Kom­mu­nis­ten im Kinder­garten bis zur Schule jeden Tag erzählt, der Kap­i­tal­is­mus ist das schlimm­ste, was es gibt auf dieser Erde. Da sie aber aus ihrer eige­nen Erfahrung wussten, dass der Kom­mu­nis­mus nicht ger­ade das Beste ist, haben sie sich im umgekehrt neg­a­tiv-rezipro­ken Denkschluss gesagt, also muss der Kap­i­tal­is­mus etwas Gutes sein. Das ist bis heute aus vie­len Köpfen Ost­deutsch­er Abge­ord­neter nicht herauszukriegen.

Aber, das bin ich auch vorhin gefragt wor­den, wenn ich eine solche Rede halte, wie jet­zt vor Ihnen, ist das kom­pat­i­bel mit Dein­er Partei? Mit der Christlich Demokratis­chen Union? Oder stel­lvertre­tend für die ÖVP? Der Kap­i­tal­is­mus ist nicht die Wirtschaft­sphiloso­phie der CDU und ich glaube auch nicht der ÖVP, son­dern die Wirtschaft­sphiloso­phie heißt „Soziale Mark­twirtschaft“. Soziale Mark­twirtschaft ist etwas anderes, sie ist nicht eine Vari­a­tion des Kap­i­tal­is­mus. Die soziale Mark­twirtschaft ist ein geistiges, ein denkerisches, ein ethis­ches Bünd­nis des Ordolib­er­al­is­mus der Freiburg­er Schule: Wal­ter Euck­en, Wil­helm Röp­ke, später Alfred Müller-Arma­ck, dann Lud­wig Erhard für die Poli­tik über­nom­men. Ein geistiges Bünd­nis zwis­chen dem Ordolib­er­al­is­mus, nicht dem Neolib­er­al­is­mus, wie die heuti­gen Lib­eralen in Öster­re­ich, in Deutsch­land, ständig missver­ste­hen. Ordolib­er­al­is­mus. Ein Bünd­nis zwis­chen dem Ordolib­er­al­is­mus und der katholis­chen Soziallehre und der evan­ge­lis­chen Sozialethik.

Das wichtig­ste Buch, das Lud­wig Erhard geschrieben hat­te, lautete „Wohl­stand für alle“. Und das haben die auch so gemeint, wie sie es geschrieben haben. Die Vorstel­lung, dass es in Deutsch­land ein Prekari­at gibt von 10 Mil­lio­nen Men­schen, die ein Einkom­men haben unter­halb des Min­desteinkom­mens, also der Hälfte der Durch­schnitt­seinkom­men, wäre für diese Leute damals völ­lig unvorstell­bar gewe­sen. Wohl­stand für alle. Sie hät­ten sich mit der heuti­gen Sit­u­a­tion nicht abge­fun­den. Wenn man sich heute damit abfind­et, dass zum Beispiel zwei Mil­lio­nen Kinder von Hartz 4, also von der Sozial­hil­fe, abhängig sind und sechs Mil­lio­nen Men­schen eben­falls Hartz 4‑Empfänger sind, obwohl die meis­ten von ihnen acht Stun­den am Tag arbeit­en… das ist heute in Deutsch­land alles möglich. Wenn Sie wis­sen wollen, warum die großen Volksparteien immer mehr Stim­men ver­lieren, dann liegt die Ursache in dieser Entwicklung.

Die sozialen Mark­twirtschaftler hat­ten noch ein anderes Prinzip. Sie kan­nten näm­lich den geord­neten Wet­tbe­werb und nicht den freien Markt von Mil­ton Fried­man — möglichst wenig Staat — son­dern den geord­neten Wet­tbe­werb, weil sie genau wussten, wenn der Wet­tbe­werb nicht geord­net ist, dann haben wir zum Schluss nur mehr Oli­go­p­o­le und Mono­pole und kleine und mit­tlere Betriebe haben über­haupt keine Chance mehr. Und so ist es ja auch gelaufen in den let­zten Jahrzehnten.

Mega­lo­manie, Gigan­tismus, vor allem eben befördert durch die Glob­al­isierung, die unver­mei­d­bar ist, die auch notwendig ist. Die aber dazu führt, dass die Ökonomie sich von diesem Ord­nungsrah­men, den der Nation­al­staat bish­er garantiert hat, eben befre­it, ent­fer­nt, und plöt­zlich Werte als abso­lut gel­ten, die vorher ein­ge­ord­net waren: die Div­i­dende am Ende des Jahres, der Aktienkurs, der Börsen­wert eines Unternehmens. Share­hold­er val­ue nan­nte man diese Philoso­phie. Wo eben das Geld, das Entschei­dende war und nicht die Men­schen. Dann kam ja ein­er wie Jür­gen Schrempp von Daim­ler-Benz und meinte in der Zukun­ft wer­den die Glob­al Play­ers auch die Welt­poli­tik bes­tim­men. Und im Zuge der Glob­al­isierung sind die Unternehmen ja auch immer größer gewor­den, immer größer, immer größer. Daim­ler, Chrysler, Mit­subishi, Welt­fir­men. Rhône-Poulenc, Hoechst, filetiert, auseinan­dergenom­men. Sanofi ist daraus gewor­den, zusam­menge­bracht Aven­tis-Sanofi, ein­er der größten Chemiekonz­erne der Erde. Immer größer – Mega­lo­manie: Gold­man Sachs, Lehman Broth­ers, Hypo Real Estate, ich habe ein paar Namen genannt.

Wir wis­sen ja aus dem Volksmund: Sie ken­nen vielle­icht die Geschichte von dem reichen katholis­chen Aktionär, der Zeit seines Lebens sein­er Pfarre große Spenden gemacht hat, Dota­tio­nen. Der Pfar­rer hat eines Tages zu ihm gesagt: „Hören Sie mal, wenn Sie ster­ben, Sie kom­men direkt ins Paradies.“ Der Bischof von Spey­er, der von dem Geld­segen auch etwas abbekom­men hat, hat das ober­hirtlich bestätigt. Dann ist aber der Aktionär, wie die Zeit ver­läuft, gestor­ben. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein, Sie alle auch: Von 100 Leuten ster­ben 100. Ist nichts zu machen. Und der Tod ist auch total demokratisch, er packt jeden. Er packt den Bus­fahrer hier in Gmunden und er packt natür­lich auch den Aktionär. Also ist er gestor­ben, der reiche Aktionär, und da kam er in den Him­mel. Da stand er vor dem Him­mel­sportal und da dachte, es öff­nen sich die Por­tale und es reg­net Man­na, die Engel sin­gen Hal­lelu­ja und die Posaunen erschallen. Und in der Tat öff­nen sich die Tore und was sieht der Aktionär? Raben­schwarze Nacht, es stinkt nach Pech und Schwe­fel und in der Mitte ste­ht der Teufel. Da sagt der Aktionär: „Aber man hat mir doch das Paradies ver­sprochen!“ Da sagt der Teufel: „Nur here­inspaziert, wir haben fusion­iert“. Das ist genau die Entwick­lung, die wir in der Weltökonomie gehabt haben. Einige wenige haben den Him­mel bekom­men und die anderen lan­den im Fege­feuer oder in der Hölle.

Was ist zu ändern, wenn wir diese Entwick­lung stop­pen wollen und wenn wir vor allem etwas erre­ichen wollen, was bish­er immer noch die Sta­bil­ität bei uns bewirkt hat, näm­lich diese Trias, diese Ein­heit von Demokratie, Sozial­staat und Mark­twirtschaft? Es gibt keine Alter­na­tive zum Markt, aber der Markt muss geord­net sein. Und er muss gerecht sein inner­halb ein­er Gesellschaft, die demokratisch genan­nt wer­den möchte. Wenn eine dieser Säulen weg­bricht, dann kommt das ganze ins Wanken.

Ich glaube, dass wir das Denken konzen­tri­eren müssten, vielle­icht auch eine Auf­gabe für einen Think Tank dieser Qual­ität, dass wir näm­lich über die Philoso­phie nach­denken, die jed­er Poli­tik zugrunde liegen muss. Und wenn ich jet­zt noch ein­mal Aris­tote­les nehme und die soziale Mark­twirtschaft, die ja eine Antwort gegeben hat auf diese Ord­nungs­frage, dann kann man ja vielle­icht eine Antwort find­en, was die richtige Ord­nung ist, bei den großen Philosophen.

Kant hat darauf eine Antwort ver­sucht mit dem Kat­e­gorischen Imper­a­tiv: Han­dle stets so, dass die Maxime deines Han­delns auch zum Inhalt der all­ge­meinen Geset­zge­bung wer­den kann. Aber wegen des ihm innewohnen­den Sub­jek­tivis­mus reicht es eben auch nicht aus. Denn, ob die Maxime, die ich für richtig halte auch von Ihnen für richtig gehal­ten wird, ist eine offene Frage, selb­st am Ende dieser Ver­anstal­tung. Und was die Alice Schwarz­er für richtig hält in der Frauen­frage, dafür käme sie im Iran ins Zuchthaus oder in irgen­deine schlimme Anstalt.

Wir müssen eine noch tiefer gehende Frage stellen und Sie wer­den natür­lich zunächst ein­mal sagen: „Ja diese Frage, die ist ja so prim­i­tiv und banal, was soll denn die eigentlich für eine Bedeu­tung haben?“ Aber Sie wer­den sehen, die Antwort auf diese Frage hat knall­harte poli­tis­che Kon­se­quen­zen. Wir müssen näm­lich die Frage stellen – und das ist die Frage nach den Basics, nach den grundle­gen­den Wer­den, auf denen Poli­tik und Ökonomie auf­bauen müssen – wir müssen die Frage stellen: „Was ist der Men­sch?“ oder, noch genauer „Wer ist der Men­sch?“. Und glauben Sie ja nicht, dass das in der Welt­geschichte immer ein­deutig beant­wortet wor­den ist.

Karl Marx hat in ein­er sein­er frühen Schriften zur Juden­frage gesagt, der Men­sch wie er geht ist nicht der eigentliche Men­sch son­dern er muss der richti­gen Klasse ange­hören und das richtige gesellschaftliche Bewusst­sein haben. Bei den Nazis musste man der richti­gen Rasse ange­hören, bei den Nation­al­is­ten der richti­gen Nation bis auf den heuti­gen Tag, bei den Fun­da­men­tal­is­ten der richti­gen Reli­gion, son­st wird man aus­gepeitscht, wie in Sau­di Ara­bi­en oder wie bei uns vor 400 Jahren auf dem Scheit­er­haufen ver­bran­nt. Oder bei wieder anderen Fun­da­men­tal­is­ten darf der Men­sch ja nicht das falsche Geschlecht haben, er darf ja keine Frau sein, son­st ist er von vorne here­in ein Men­sch zweit­er Klasse. Die wohl am weitesten auf der Welt ver­bre­it­ete neg­a­tive Kat­e­gorisierung des Men­schen: Frau zu sein. 3,4 Mil­liar­den auf dieser Erde sind Frauen. Es gibt keinen Bevölkerung­steil auf dieser Erde, der mehr diskri­m­iniert, entrechtet, gequält, geschun­den und ver­sklavt wird, wie die Frauen, bis auf den heuti­gen Tag. Wir haben eine Mil­liarde Anal­pha­beten, davon sind 80% Frauen, 800.000 Mil­lio­nen. Aber nicht deswe­gen, weil die Frauen düm­mer sind, als die Män­ner, son­dern weil sie in den von den Män­nern errichteten Herrschaftssys­te­men sys­tem­a­tisch von den Bil­dung­sein­rich­tun­gen fer­nge­hal­ten wer­den. Hun­dert Mil­lio­nen von Frauen sind beschnit­ten, man hat ihnen die Kli­toris ver­stüm­melt, weggeschnit­ten; aus Stammes­grün­den, aus religiösen Grün­den. Jedes Jahr kom­men 4 Mil­lio­nen dazu.

In Deutsch­land sind es bere­its 60.000. Es wird beschönigt und dann wird gesagt, das alles geschieht unter der Über­schrift „Reli­gions­frei­heit“. Das hat mit Reli­gions­frei­heut über­haupt nichts zu tun. Das ist eine Schande, eine Blas­phemie wenn irgend­je­mand behauptet, Allah oder Gott hät­ten die Ver­stüm­melung von Frauen ver­langt. Wo bleibt der Protest eigentlich? Hier warte ich noch auf den Protest der Men­schen. Und rechtlich gese­hen, ist es nicht unter Reli­gions­frei­heit zu sub­sum­ieren, es ist ein Ver­stoß gegen Artikel zwei des Grundge­set­zes in Deutsch­land und ist schwere Kör­per­ver­let­zung, die von den Staat­san­waltschaften in Europa von Amts wegen ver­fol­gt wer­den müssen.

Ein erster Schritt, um die Frage zu beant­worten: Was fol­gt eigentlich aus der Tat­sache? Aus der Frage: Wer ist ein Men­sch? Wenn die Leute in den ver­gan­genen Jahrhun­derten bis auf den heuti­gen Tag zur falschen Kat­e­gorie gehörten, wenn man sie liq­ui­diert, gesteinigt, ver­gast, zu Tode gefoltert, oder son­st wie umge­bracht hat. Die falschen Men­schen­bilder waren und sind die Ursachen für die schw­er­sten Ver­brechen und die übel­sten poli­tis­chen Ver­fehlun­gen, die die Men­schen zus­tande gebracht haben. Jet­zt haben wir die Frage nach dem, was uns zusammenhält.

Wir müssen wieder wis­sen, wer ist ein Men­sch, was ist der Men­sch. Diese Frage nach dem Men­schen­bild, die kön­nen wir ja nicht beant­worten indem wir sagen, irgen­dein Abklatsch dieser bish­eri­gen Men­schen­bilder, son­dern es muss ja wohl das kat­e­gorische Gegen­teil sein. Der Men­sch, wie er geht und ste­ht, ist der eigentliche Men­sch, unab­hängig davon, ober er Mann oder Frau ist. Aber auch unab­hängig davon, ob er alt oder jung ist. Wir dür­fen nicht so leben, dass die nach uns Kom­menden, unsere Kinder und Enkelkinder, ihr Glück gar nicht mehr find­en kön­nen; dass wir sie in ihrer Men­schwürde verletzen.

Der Men­sch, wie er geht und ste­ht, ist in sein­er Würde unan­tast­bar, auch diejeni­gen, die nach uns kom­men. Aber umgekehrt gilt es auch. In Eng­land bekom­men Leute, die älter sind als 80 Jahre, keine Bypass Oper­a­tion, kein kün­stlich­es Hüft­ge­lenk. Die wer­den vom Dial­y­seap­pa­rat abgeschal­tet, es sei denn, sie haben genü­gend pri­vates Gelde, um es aus der eige­nen Tasche zu finanzieren. Und bei den aller­meis­ten reicht das Geld eben nicht aus. Dann haben wir die Zwei-Klassen-Medi­zin und die find­et heute schon in Deutsch­land statt. Die eigentliche Ursache – jet­zt sind wir wieder bei dem Mis­strauen – ist darin zu sehen, dass diese Ökonomisierung der Gesellschaft unser ganzes Gesund­heitswe­sen beherrscht. Der Men­sch wird zum Kosten­fak­tor degradiert. Der Patient, der mutiert selb­st in den offiziellen Doku­menten der Car­i­tas, zum Kun­den, als ob das Gesund­heitswe­sen ein Kartof­fel­markt wäre oder eine Maschi­nen­fab­rik. Der Arzt im Kranken­haus, der verän­dert sich zum Fall­pauschalen-Jon­gleur, der 30% sein­er Arbeit­szeit darauf ver­wen­den muss, die richtige Fall­pauschale zu find­en für den medi­zinis­chen Ein­griff, den er ger­ade vorgenom­men hat, aber nicht die richtige Fall­pauschale für den Patien­ten oder für ihn, son­dern für den 35jährigen Geschäfts­führer des Kranken­haus­es, der in der Regel außer Betrieb­swirtschaft­slehre nichts, aber über­haupt nichts, gel­ernt hat; aber entschei­den will darüber, welche Medika­mente angeschafft wer­den, welche Instru­mente einge­set­zt wer­den. So mutiert dann das Kranken­haus zum an der Gewin­n­max­imierung ori­en­tierten Unternehmen.

Das Prob­lem haben Sie in Ihrem schö­nen Land zurzeit, wie ich höre. Ich bin diesem Prob­lem auch begeg­net als Gesund­heitsmin­is­ter. Das Argu­ment ist das Geld. Das Geld reicht nicht, also wird ges­part. Wo wird ges­part? Da hat der Lan­deshaupt­mann, wie ich gele­sen habe, etwas ganz richtiges gesagt: Es darf nicht an der Sicher­heit ges­part wer­den, auch nicht am Per­son­al. Aber man muss ratio­nal­isieren bei den Fach­abteilun­gen. Das ist ein guter und ein richtiger Weg. Anders habe ich das auch nicht machen kön­nen. Aber das ist natür­lich auf die Dauer keine Lösung. Denn das Geld­prob­lem bleibt. Nur das kann der Herr Lan­deshaupt­mann nicht lösen, genau so wenig, wie ich es lösen kon­nte. Warum kann er es nicht lösen? Weil etwas eben nicht real­isiert wird, in diesem Wirtschaftssys­tem, was aber möglich wäre, näm­lich die Erken­nt­nis umge­set­zt in die Tat.

Es gibt nicht zu wenig Geld. Es gibt auf der Erde Geld wie Heu, Geld wie Dreck. Es ist nur völ­lig falsch verteilt. Die Speku­lanten, die jeden Tag an der Börse dieser Erde zwei Bil­lio­nen Dol­lar umset­zen, die haben eine priv­i­legierte Stellen. Sie müssen von jed­er Windel und von jed­er Kaf­fee­tasse und von jed­er Mas­chine, Küchen­mas­chine, die Sie brauchen, Umsatzs­teuer bezahlen. Die Speku­lanten, die müssen von den zwei Bil­lio­nen, die sie jeden Tag umset­zen, nicht einen müden Cent beis­teuern zur Finanzierung der huma­nen Auf­gaben dieser Erde. Wenn wir eine Börsenum­satzs­teuer, eine inter­na­tionale Finanz­transak­tion­ss­teuer ein­führen wür­den, nur in Europa, ergäben das 34 Mil­liar­den Euro, weltweit 140 Mil­liar­den Dol­lar. Die UNO braucht zur Finanzierung ihrer Mil­len­ni­um­sauf­gaben, also Brun­nen bohren in Afri­ka, Hal­bierung der Armut, alle Kinder in die Schule, Bekämp­fung der Volk­skrankheit­en, 100 Mil­liar­den. Wir hät­ten noch 40 Mil­liar­den übrig für die anderen Aufgaben.

Die Ein­führung ein­er inter­na­tionalen Finanz­transak­tion­ss­teuer ste­ht auf der Agen­da der G20 Staat­en, das haben die Staat­en beschlossen. Sie ste­ht inzwis­chen im Grund­satzpro­gramm der CDU, wird propagiert von Angela Merkel genau­so wie vom Finanzmin­is­ter Schäu­ble und vom franzö­sis­chen Staat­spräsi­den­ten und ich glaube auch von den Parteien hier in Öster­re­ich. Aber es wird nicht umge­set­zt. Warum? Weil zum Beispiel die Englän­der, die den größten Finanz­platz der Erde in Lon­don haben, nicht mit­machen. Die Mehrheit im Kongress in Ameri­ka auch nicht, ich habe es schon gesagt.

Also entschei­den die Leute in ihrem Inneren, dass die Poli­tik set­zt sich nicht durch­set­zt. Sie schafft es nicht. Und nach wie vor haben diese anony­men Mächte in der Welt das Sagen und das muss sich ändern. Das kann sich nur ändern durch poli­tis­che Entschei­dun­gen. Dafür müssen die poli­tis­chen Parteien kämpfen, dass Maß­nah­men ergrif­f­en wer­den, dass der Men­sch befre­it wird aus diesem men­sche­nun­würdi­gen Kon­strukt, dieser Diskri­m­inierung, Kosten­fak­tor zu sein.

Wir kön­nen diese Prob­leme lösen, aber nur wenn das, was auch in Europa an Werten immer vorhan­den war, reak­tiviert wird: Dass das Ein­treten für Men­schrechte – deswe­gen war die Libyen-Entschei­dung so eine Katas­tro­phe von dem deutschen Außen­min­is­ter – Bestandteil der Außen­poli­tik der europäis­chen Demokra­tien sein muss; und dass vor allem das Erken­nen, dass zum Men­schen eben auch die Erken­nt­nis gehört, dass der Men­sch ein Sozial­we­sen ist –  ein Sozial­we­sen auch in der Rela­tion zur Natur und zur Umwelt.

Näch­sten­liebe ist ja so ein Wort, das wagt man gar nicht mehr in den Mund zu nehmen in ökonomis­chen Kreisen. In der Frank­furter All­ge­meinen Zeitung ist ein­mal ein Artikel gekom­men, da hieß es: Näch­sten­liebe, da wird wieder darüber gere­det, was soll denn das eigentlich in ein­er glob­al­isierten mod­er­nen Welt… Wer ist denn der Näch­ste? In dem Artikel wurde das rauf- und run­ter­dek­lin­iert und richtig lächer­lich gemacht.

Vor 2000 Jahren hat­te der Erfind­er der Näch­sten­liebe ähn­liche Prob­leme. Bei den alten Juden gab es auch Näch­sten­liebe, aber der Näch­ste war genau definiert, das war näm­lich der Volksgenosse und diejeni­gen, die Gas­trecht hat­ten. Da kamen ja, wie Sie wis­sen, die Phar­isäer zusam­men und haben beratschlagt: Meint der denn unter Näch­sten­liebe das­selbe wie wir? Dann haben sie einen zu ihm geschickt und da hat Jesus die FAZ-Frage gestellt: „Sag mal, Rab­bi, wer ist denn der Näch­ste?“ Und dann hat Jesus nicht direkt geant­wortet, son­dern er hat eine Geschichte erzählt. Diese Geschichte ist das weit­ere Fun­da­ment für das, was wir in der Zukun­ft machen müssen. Jesus erzählte die Geschichte aus dem Wadi el Kelt von der Adu­min­steige, der Blut­steige, die her­abzieht von Jerusalem nach Jeri­cho, berüchtigt wegen Mord- und Tod­schlag. Er erzählte die Geschichte von dem Juden, der dort über­fall­en wird, blutig geschla­gen, aus­ger­aubt. Er liegt da, am Weg, da kommt der Priester vor­bei, lässt ihn liegen, kommt der Lev­it (wir wür­den heute sagen, der Organ­ist), der lässt ich auch liegen und jet­zt kommt – und das ist die eigentliche Pro­voka­tion gewe­sen – der Abwe­ich­ler, der Renegat, der Apo­s­tat, der Feind, der eigentliche geistige Geg­n­er, der Mann aus Samaria. Denn die Samarit­er ließen nur die fünf Büch­er Moses gel­ten und die anderen Propheten waren für sie Maku­latur. Und jet­zt, sagt Jesus, aus­gerech­net der ver­sorgt den Ver­let­zten medi­zinisch, bringt ihn ins näch­ste Hotel und gibt dem Wirt sog­ar noch Geld. Jet­zt erst stellt er die Gegen­frage, die entschei­dende Gegen­frage. Wir meinen ja immer, der Näch­ste sei der Ver­let­zte, aber Jesus fragt den Phar­isäer etwas anderes. Er fragt näm­lich, wer von den Dreien war der Näch­ste für den Ver­let­zten? Da musste der Phar­isäer sagen, der Apo­s­tat; der­jenige, der ihm geholfen hat, der Samariter.

Was heißt das? Näch­sten­liebe ist nicht Gut­men­schen­tum, ist nicht pla­tonis­che Angele­gen­heit, son­dern Näch­sten­liebe ist die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Ich muss nicht die ganze Welt lieben, von Kamtschat­ka bis zum Süd­pol möglichst viele, damit es möglichst unverbindlich wird. Ich muss auch nicht den Sil­vio Berlus­coni lieben, oder son­st irgend­je­mand, muss ich alles nicht. Mir wird schon schlecht bei dem Gedanken, ich müsste alle Mit­glieder mein­er Frak­tion in Berlin lieben, muss ich nicht. Wenn ich an die SPD denke, wird’s mir auch schlecht. Muss ich alles nicht. Aber ich habe die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Wenn ein­er nicht in Not ist, muss ich ihm auch nicht helfen. Aber die Not, die ist auch bei uns unmit­tel­bar vor der Haustür. Natür­lich ist die Not in Banglade­sch eine andere, als in Linz oder in Stuttgart. Aber Sie kön­nen schon eine mit­telschwere Krankheit aus der eige­nen Tasche gar nicht mehr finanzieren. Das heißt, Sie sind auf die Sol­i­dar­ität ihrer Mit­men­schen angewiesen.

Was wird aber den jun­gen Leuten heute gepredigt? Heute wird den Leuten nicht mehr gesagt, sol­i­darisch muss man sein für diejeni­gen, die in Not sind, son­dern: Jed­er sorgt für sich sel­ber; am besten dadurch, dass er einen Kap­i­tal­stock bildet. Aber es wird nicht gesagt, was machen wir dann mit denen, die einen Kap­i­tal­stock gar nicht bilden kön­nen? Die Verkäuferin im Coop, beim Lidl, Aldi, die Bus­fahrer, was machen die eigentlich? Oder was machen eigentlich diejeni­gen, bei denen der Kap­i­tal­stock Pleite gegan­gen ist durch diese Finanzkrise? Keine Antwort des Neolib­er­al­is­mus. Jed­er sorgt für sich selber.

Diese Men­tal­ität zer­stört unsere Gesellschaft. Die Zer­störung der Sol­i­dar­ität zwis­chen den Men­schen und zwis­chen den Men­schen und der Natur. So ist das amerikanis­che Sozial- und Gesund­heitswe­sen im Prinzip bis heute noch organ­isiert. In der let­zten Rede, die Bill Clin­ton gehal­ten hat, hat er gesagt: “Heute haben wir wieder 700.000 neue Jobs reg­istri­eren kön­nen als Ergeb­nis des let­zten Jahres“. Da hat sich gle­ich am anderen Tag ein­er aus Detroit gemeldet und gesagt: „Davon hab ich drei“. Die Sit­u­a­tion haben wir bei uns auch in Deutsch­land inzwis­chen: Minijobs.

Aber wenn die Leute ein­mal 18 Stun­den am Tag arbeit­en müssen, in drei ver­schiede­nen Jobs, um über die Run­den zu kom­men, da wer­den die Ehen zer­stört, die Fam­i­lien krachen auseinan­der, die Kinder ver­wahrlosen. Das amerikanis­che Erziehungsmin­is­teri­um hat fest­gestellt, dass 25% der Amerikan­er inzwis­chen Anal­pha­beten sind, es sind die Kinder dieser work­ing poor Leute. Und auf 100.000 Ein­wohn­er kom­men in Ameri­ka 12 Kap­i­talver­brechen. Bei uns und in Deutsch­land sind es ger­ade – noch – zwei. Aber es ändert sich schon.

In Kali­fornien müssen sie für die Gefäng­nisse mehr Geld an Investi­tio­nen aus­geben, als für alle anderen Investi­tio­nen – Kranken­häuser inklu­sive – zusam­mengenom­men. Der amerikanis­che Sozi­ologe Fried­man hat ein­mal hochgerech­net: Wenn das mit der Krim­i­nal­ität so weit­ergeh – näm­lich sitzen jet­zt unge­fähr 6 Mil­lio­nen Amerikan­er verurteilt recht­skräftig im Gefäng­nis, dann wer­den im Jahre 2040 die Hälfte der Amerikan­er im Gefäng­nis sitzen und sie wer­den von der anderen Hälfte bewacht.

Selb­st der überzeugteste Mon­e­tarist und Kap­i­tal­ist kön­nte ein­se­hen, dass die Zer­störung der Sol­i­dar­ität in ein­er Gesellschaft auf die Dauer uns allen viel teuer kommt, als wenn wir den Men­schen wieder so sehen, wie er ist: In sein­er Men­schen­würde unan­tast­bar, unab­hängig von Herkun­ft und Einkom­men und Geschlecht und, dass er eine soziale Verpflich­tung hat, den anderen gegenüber und der Umwelt gegenüber.

Das ist die Basis der Poli­tik und auch der Ökonomie für die Zukun­ft. Es ist eine philosophis­che Frage, es ist eine ethis­che Frage, von deren Beant­wor­tung abhängt, ob alle Neuerun­gen, alle großen Erfind­un­gen zu der die Men­schen fähig sind, auch tat­säch­lich den Men­schen zugutekom­men. Das hängt von uns ab. Das ist eine poli­tis­che Frage. Deswe­gen brauchen wir im Übri­gen eine Wel­tregierung. Das kön­nen wir auf der nationalen Ebene gar nicht lösen. Wenn Sie mir jet­zt sagen: „Eine Wel­tregierung, das ist ja völ­lig utopisch!“ – sie wird kom­men, sie wird kom­men müssen. Wenn ich im Jahre 1988 hier bei Ihnen gewe­sen wäre und ich hätte gesagt, im Jahre 1998 gehören Tschechien, Polen und Ungarn zur NATO und zur Europäis­chen Union, dann hät­ten Sie mich wahrschein­lich in die näch­ste Psy­chi­a­trie gebracht. Inner­halb eines Jahrzehntes ist es Real­ität geworden.

Die Welt rückt immer enger zusam­men. Die Zeitläufe spie­len sich immer schneller ab. Die Zukun­ft rückt immer näher. Was wir brauchen, ist ein Konzept für die Zukun­ft auf der Basis dieser Ethik. Das Konzept ein­er inter­na­tionalen-öko-sozialen Mark­wirtschaft, ver­bun­den mit einem glob­alen Mar­shall-Plan, wie er vor allem in Öster­re­ich auch von führen­den ÖVP-Poli­tik­ern entwick­elt wor­den ist. Er befind­et sich auf dem Vor­marsch, dieser Gedanke. Wir brauchen ein Konzept und vielle­icht kön­nen Sie in Ihrem Think Tank auch daran weit­er mitar­beit­en. Dann brauchen wir mutige Frauen und Män­ner, die bere­it sind, für dieses Konzept zu kämpfen. Die soziale Mark­twirtschaft ist 1947 im Wirtschaft­srat mit ein­er Stimme Mehrheit durchge­set­zt wor­den. Sie kön­nen sich leicht aus­rech­nen, wenn das anders herum gelaufen wäre, welche Entwick­lung Deutsch­land, möglicher­weise auch Öster­re­ich, ganz Europa, genom­men hätte. Aber es waren Men­schen, die hat­ten die richtige Idee und sie waren mutig und sie haben dafür gekämpft. Genau das ist es, was wir brauchen.

Deswe­gen bin ich auch gerne hier­hergekom­men, weil das auch eine Ver­anstal­tung ist, die von ein­er großen wichti­gen Partei mit­ge­tra­gen wird. Nicht allein, aber wir brauchen die poli­tis­chen Parteien, wir brauchen auch die Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen. Wenn ein­er in ein­er poli­tis­chen Partei nicht mitar­beit­en will, dann soll er in den Nichtregierung­sor­gan­i­sa­tio­nen mit­machen, bei Green­peace, bei Attac. (Ich bin Mit­glied von Attac, nicht, weil das eine Vere­ini­gung ist zur Bekämp­fung der Polizei; weil Attac die Abkürzung ist für Organ­i­sa­tion zur Ein­führung der inter­na­tionalen Finanz­transak­tion­ss­teuern Glob­ales Net­zw­erk junger Leute.) Mit­machen: in den poli­tis­chen Parteien, in diesen großen Vere­ini­gun­gen, die natür­lich auch die Grund­lage sein kön­nen für die zivilge­sellschaftliche Struk­tur, die Selb­stin­sze­nierung der Zivilge­sellschaft in diesen Aktions­bünd­nis­sen und in diesen Bürg­erini­tia­tiv­en. Das ist die Chance, die wir haben. Und ich bin ein anthro­pol­o­gis­ch­er Opti­mist: Wir haben die früheren Fra­gen auch gelöst aber wenn wir sie in der Zukun­ft lösen wollen, dann brauchen wir eben auch einen Think Tank. Nicht nur einen, aber möglichst viele, der so gut ist wie der hier, den wir hier in Gmunden haben und wozu ich Ihnen grat­uliere. Vie­len Dank.

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