Heiner Geißler führt vor Augen, dass Transparenz und Solidarität entscheidend sind.
Transkript der Rede
Frau Bernhard, Herr Landeshauptmann, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bedanke mich natürlich für die Einladung, ich komme immer gerne nach Österreich. Wenn ich in Berlin gefragt werde, „Wo kommen Sie her?“ sage ich, ich bin gebürtiger Vorderösterreicher.
Vorderösterreich hat früher zu Österreich gehört, es ist nämlich das Gebiet zwischen Bregenz und Freiburg im Breisgau und wurde unter Napoleon an die badischen, württembergischen und bayrischen Fürsten verteilt, die wurden dadurch befördert, zu Großherzogen, zu Königen (Württemberg und Bayern), durch Landraub unter der Ägide der Besatzungsmacht, Napoleon. Deswegen sage ich immer, um die Berliner zu ärgern, ich bin gebürtiger Vorderösterreicher. Und außerdem stammt meine Familie aus dem Zillertal – das ist nun wirklich wahr – und sind aus dem Zillertal dann nach Oberschwaben ausgewandert.
Ich bedanke mich für die fast vollständige Wiedergabe meines Lebenslaufes, sowohl bei Frau Bernhard, wie beim Herrn Landeshauptmann. Ich darf in aller Bescheidenheit hinzufügen, ich bin zurzeit auch noch Vorsitzender des südpfälzer Gleitschirmfliegerclubs. Also das ist für mich fast so wichtig, wie alles andere. Und die Alpen sind ja nun ein Dorado für diesen schönen Sport.
Denken sei die schwerste Arbeit, hat Henry Ford II einmal gesagt: Das ist ja wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenig Leute damit beschäftigen. Sie hier in Gmunden und was Sie hier gerade auch vorgestellt haben mit Ihrer Academia ist natürlich der Gegenbeweis für das, was hier vermutet wird; und ist eben auch zwingend notwendig. Ich kann das jetzt im Einzelnen gar nicht darlegen aber wenn man die Weltläufe betrachtet, dann muss man eben erkennen: Das, was auf der Erde geschieht, ist das Produkt einer geistigen Auseinandersetzung. Je nachdem, wer diese Auseinandersetzung gewinnt, bestimmt anschließend, wie die Welt sich gestaltet.
Die Halbwertzeit des Wissens, wovon wir gerade ein paar Beispiele gehört haben, liegt heute bei fünf Jahren. Vor hundert Jahren, zu Kaiser Wilhelms Zeiten, waren das hundert Jahre, das heißt die Leute damals haben doppelt so viel gewusst, wie die Leute zu Napoleons Zeiten (ob der Kaiser Wilhelm doppelt so viel gewusst hat, das kann man in Frage stellen), dann hat es noch fünfzig Jahre gedauert, dann noch zehn, jetzt sind es fünf Jahre. Amerikanische Forscher haben ausgerechnet, dass allein in den nächsten zehn Jahren mehr an neuen Informationen erarbeitet wird, als in den zurückliegenden 2.300 Jahren seit Demokrit und Aristoteles. Alle drei Minuten gibt es eine neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis, alle fünf Minuten drei neue chemische Formeln. Dieses gigantische Wissen ist zusammengefasst in internationalen Datensystemen, im Internet mit über einer Billion Webseiten, Facebook, Twitter, Blogs. Man kann mit Mausklick innerhalb von fünf Minuten zehntausende von Leuten zusammenbringen. Jeden Tag 22 Milliarden Zeitungsseiten sind präsent, 25 Millionen Bücher, ihre Inhalte, die Bilder, die Information von 15.000 Fernsehkanälen stehen den Menschen zur Verfügung.
Das ist die neue Welt! Und die lässt sich nicht mehr zurückdrehen, sondern sie wird sich weiterentwickeln in die Zukunft. Die Frage ist nur, diese Welt, die den Menschen in einem bisher nicht gekannten Umfange Flexibilität, Mobilität, lebenslanges Lernen, aber auch ständig sich maximierende Unsicherheit vermittelt, was soll das für eine Welt sein? Das ist die entscheidende politische und ethische Frage.
Der langjährige Vorstandsvorsitzende von Bayer Leverkusen, Hansen, hat einmal gesagt, die Amoniaksynthese war die Voraussetzung für die Salpetersäure, die massenhafte Produktion. Die Salpetersäure, das ist die Grundlage für Düngemittel, damit kann man Hungersnot bekämpfen, aber man kann damit auch Bomben bauen. Und man kann mit Bomben (Sprengstoff), Tunnels bohren, Tunnels durch das Gebirge bringen, Straßen bauen, aber man kann damit auch Bomben bauen und damit Menschen verletzen und töten.
Nicht das Wissen, das Denken, ist gefährlich oder schädlich, sondern immer das, was der Mensch daraus macht. Und diese Frage, die kann man nicht nur mit der gängigen Intelligenz beantworten, die bei uns ganz hoch im Kurs steht; mit der mathematischen Intelligenz oder der ökonomischen Intelligenz, sondern wir brauchen andere Einsichten, zusätzliche Intelligenzen, so würde ich das einmal sagen.
Wenn wir die Ereignisse der letzten Jahre einmal Revue passieren lassen und nur ein paar Punkte herausgreifen – weil wir auch zu der Frage Stellung nehmen müssen: Wie gehen wir eigentlich um mit der Bewegung in unserer Bevölkerung? In Deutschland, auf der ganzen Welt, in Afrika, die Leute gehen auf die Straße, sie bewegen sich, sie wenden sich gegen den Staat, gegen die Demokratie. Was ist eigentlich los? Warum ist das so? Wenn wir uns einmal drei, vier Ereignisse vor Augen halten, die man beliebig vermehren könnte, da kann man leicht erkennen: Was ist diesen Ereignissen gemeinsam? Die Finanzkrise vor zwei Jahren, mit zwei Billionen Dollar verbrannt, das Vermögen, das Eigentum von Millionen Menschen vernichtet. Durch einige wenige auf dieser Erde, die die Macht hatten, und die Fähigkeit hatten, falsch zu denken. Mathematische, ökonomische Intelligenz braucht man, das ist klar, aber alles ist relativ.
Sie kennen vielleicht die Geschichte von dem Lehrer, der hat einen sehr schlechten Schüler, nachdem dieser die Schule verlassen hatte, auf der Straße getroffen. Der kam aber gut gekleidet daher, hat einen dicken Daimler gefahren, und dann sagt der Lehrer zu dem ehemaligen Schüler: „Ihnen geht’s ja gut!“ Er war ganz erstaunt. „Was machen Sie denn?“ Da sagt er, „Ja, mir geht’s gut. Ich fabriziere Kisten für drei Euro das Stück und verkaufe die Kiste für fünf Euro. Von den zwei Prozent kann ich gut leben.“
Das ist eine Form ökonomisch-praktischer Intelligenz. Wenn unsere Unternehmen so arbeiten würden, wären sie wahrscheinlich auch nicht erfolgreich. Aber auf der anderen Seite, die übersteigerte ökonomische, fiskalische Intelligenz, die zu dieser Katastrophe geführt hat, ist darauf zurückzuführen, dass sie gar nicht mehr richtig denken konnten, die 50.000 Broker, die Banker, Rating Agenten, die immer mehr Geld wollten, immer mehr Geld, immer mehr Geld. Und die Grundregeln der Mengenlehre vergessen haben: Wenn Sie aus einer Kasse, in der 3.000 Euro sind, 4.000 herausnehmen, dann müssen Sie wieder 1.000 hineingeben, damit nichts drin ist. (Das dauert ein bisschen lange bei Ihnen.) Die haben aber gedacht, wenn sie da 1.000 Euro herausnehmen, dann haben sie 5.000 Euro, oder 6.000.
Was ist passiert? Die Gier nach Geld hat den Leuten regelrecht das Hirn zerfressen. Sie waren unfähig, richtig zu denken, weil ihnen etwas anderes gefehlt hat, nämlich ethische Intelligenz, soziale Intelligenz, ja sogar kreative Intelligenz. Intelligenz ist immer nur dann richtig, wenn es eine gebündelte Intelligenz ist und eben nicht nur einseitig. Das heißt, diese Finanzkrise ist möglich geworden, durch ein falsches Denken, ein falsches ökonomisches Denken. Dadurch, dass ein Denker die letzten zwei Jahrzehnte in der Wirtschaftspolitik, in der Welt, aber vor allem auch in Europa und in den vereinigten Staaten, beherrscht hat.
Wenn Sie sich einmal fragen, welcher Mensch hat eigentlich in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Weltgeschichte am meisten beeinflusst? Also Jesus war es nicht, John F. Kennedy auch nicht, Barack Obama auch nicht, noch nicht einmal Konrad Adenauer oder irgendjemand anderer. Am meisten beeinflusst wurde das Weltgeschehen durch einen Denker, der auch falsch gedacht hat, nämlich durch Milton Friedman, der eine völlig falsche Wirtschaftstheorie popularisiert hat und die Wirtschaftsjournalisten, die Wirtschaftsminister und die Politiker in den letzten zwei Jahrzehnten beherrscht hat. Möglichst wenig Staat und so viel Markt wie möglich. Der Markt regelt alles. Man braucht nur den Markt geschehen lassen, die Politik darf den Markt nicht stören. So kam die Finanzkrise zustande. Und dann musste die Politik die Finanzen retten. Nicht die Politik, sondern die Steuerzahler: In Deutschland mit einem Rettungsschirm von über 500 Milliarden Euro, 120 Milliarden Euro für die größte Bank neben der Deutschen Bank in Deutschland, Real Hypo Estate. Weil die schon so groß war, dass man sie nicht mehr Pleite gehen lassen konnte, weil sonst Millionen von Menschen ihre Spareinlagen und ihr Vermögen verloren hätten.
Diese Welt ist nicht in Ordnung. Warum ist sie nicht in Ordnung? Nicht weil das Kapital als solches schlecht wäre. Man kann gar nicht genug davon haben. Aber das Kapital hat den Menschen zu dienen und nicht die Menschen zu beherrschen. Heute ist das aber umgekehrt, das Kapital beherrscht die Menschen und die Menschen haben den Kapitalinteressen zu folgen, mit der Folge einer durchökonomisierten Gesellschaft, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, wo Sie hinkommen.
Die Ölplattform im Golf von Mexiko, wo über eine Million Tonnen Öl in dieses Meer ausgeflossen ist, diese Ölplattform ist explodiert. Sie hätte gar nicht gebaut werden dürfen nach den Vorschriften der amerikanischen Administration, weil sie zu unsicher war. Sie ist trotzdem gebaut worden. Warum? Wegen der Profite, die man mit dieser Ölplattform erzielen wollte, ohne Rücksicht auf das Meer und seine Bewohner und die Menschen. In Chile sind 30 Bergleute 60 Tage siebenhundert Meter im Bergwerk eingesperrt gewesen. Dieses Bergwerk hätte nie in Betrieb genommen werden dürfen, selbst nach den bergrechtlichen Vorschriften der chilenischen Regierung. Es wurden trotzdem Menschen in dieses Bergwerk 700 Meter in die Tiefe hinuntergeschickt. Warum? Weil man auch mit diesem maroden Bergewerk Profite machen wollte. In Köln ist plötzlich ein großes Gebäude mitsamt dem Stadtarchiv in einem Loch verschwunden, war einfach weg. Zwei Leute dazu – tot. Warum? Weil beim U‑Bahn Bau in Köln die zuständige Firma den Beton falsch gemischt hat. Warum hat sie das gemacht? Wie sie sich einen höheren Profit dabei errechnet hat, wenn sie schlechten Beton verwendet. Menschen und fremdes Eigentum war ihnen egal. Fukushima in Japan: Der Tsunami und das Erdbeben das war kein Kataklysmus. Die alten Griechen haben den Weltenbrand und die vorangehenden Überschwemmungen als Kataklysmus bezeichnet, also die absolute Super-Gau-Katastrophe. Dieser Kataklysmus, das Erdbeben und der Tsunami waren nicht das Ergebnis falschen Denkens, aber dass dieses Kernkraftwerk heute eine Kernschmelze hat, hat dieselben Ursachen. Denn es war von den Sicherheitsstandards ausgelegt auf eine Erdbebengefahr von 8,2 auf der Richterskala. Die wussten aber genau, dass am Rande dieser Insel, diesem Graben, wo die zwei Platten aufeinander reiben, 9,5 möglich ist. Aber sie haben diese Kraftwerke nicht auf 9,5 ausgelegt, obwohl sie es wussten. Warum haben sie das nicht getan? Weil es zu teuer war. Weil sie Geld sparen wollten. Dann haben sie gespart an der Sicherheit und auf Kosten der Menschen.
Nun glauben Sie ja nicht, dass die paar Beispiele, die ich erzählt habe, denen ja allen große denkerische Entwicklungen zugrunde liegen, Erfindungen, technologische Wunderwerke – glauben Sie ja nicht, dass die Menschen dies einfach so hinnehmen und dass sie das nicht so sehen, oder nicht so sehen können, wie ich das gerade dargestellt habe. Die wissen das ganz genau. Und zwar gerade deswegen, weil wir eben in einer Mediengesellschaft leben, das ist gerade zum Schluss hier noch einmal gesagt worden; einer Mediengesellschaft mit den Möglichkeiten, wie ich sie gerade geschildert habe, und die Leute sind infolge dessen informiert. Und Sie sehen aber – hinter den Ereignissen auf dieser Erde – die Interessen, die dahinter stehen. Und deswegen habe wir – ich habe nur die Umfragen aus Deutschland – aber es ist in den Vereinigten Staaten und in ganz Europa nicht viel anders – eben ein Phänomen, das klar macht, warum die Menschen heute auf die Straße gehen.
Ich habe als Generalsekretär der CDU im Jahre 1979 dem demoskopischen Institut Allensbach, Frau Nolle-Neumann, einen Auftrag gegeben. Sie sollten eine Frage stellen und dann die Leute antworten lassen. Die formulieren immer Sätze und der Satz, den sie abgefragt haben, der lautete: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch mir gut. Stimmt der Satz, oder stimmt der Satz nicht?“ Damals haben über 80% der Leute gesagt, ja, der Satz stimmt. Heute sagen es noch 17%, das heißt 83% der Menschen haben ihr Vertrauen in das wirtschaftliche System verloren und sie übertragen natürlich dieses Misstrauen gegen das wirtschaftliche System auf die Politik, weil sie völlig zurecht sagen, die Politik hat die Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Ökonomie nicht eine solche Gewalt, eine solche Macht über die Menschen gewinnt, dass es hier auf Menschenleben, auf Sicherheit, auf Lebensbedingungen gar nicht mehr ankommt: Die Todsünde des Kapitalismus, des kapitalistischen Systems, das wissen die Menschen. Deswegen sagen sie, aha, jetzt werden da Stromtrassen gebaut, ein Flughafen, ein Bahnhof soll gebaut werden, Krankenhäuser sollen dicht gemacht werden, oder was auch immer, womit die Menschen konfrontiert werden. Dann vertrauen sie nicht mehr der Demokratie, den demokratischen Entscheidungen der Parlamente, misstrauen ihnen, weil sie nicht wissen, ob nicht vielleicht doch andere Interessen dahinter stehen.
Bei Stuttgart 21 hat natürlich auch kommunikative Intelligenz gefehlt, die gehört auch dazu, dass man nämlich die Leute richtig informiert über das, was man will. Wenn man ein solches Projekt von den maßgeblichen Leuten mit der Überschrift versieht „Von Brüssel über Berlin bis Stuttgart“, also wir brauchen unbedingt eine europäische Magistrale (wobei Sie sich ausrechnen können wie viele Leute in Oberschwaben wissen, was eine Magistrale ist; Sie in Oberösterreich wissen das natürlich, aber in Oberschwaben … Magistrale, da denken die an Bürgermeister oder was weiß ich). Man brauchte aber eine europäische Magistrale Paris-Stuttgart-Bratislava. Da haben die Leute in Sillenbuch oder Heslach, das sind Vororte von Stuttgart, sich gefragt, ja wer von uns will denn eigentlich nach Bratislava? Und dafür sollen12 Milliarden Euro verbaut werden und der Bahnhof gewalttätig um 45 Grad gedreht, quer in das Nesenbachtal gelegt, mit allen Komplikationen, die damit verbunden sind. Da kann ja etwas nicht richtig sein. Und wer kriegt eigentlich die Grundstücke? Da werden nämlich 100 Hektar Grundstücksfläche frei, weil die Gleise, die bisher oberhalb in den Bahnhof hineingeführt haben, jetzt in den Boden gelegt werden, aber nicht mehr von vorne kommend, sondern von links oder rechts, da sind aber lauter Berge und da müssen 30 Kilometer Tunnel gebaut werden. Da haben sich die Leute gesagt, also so dumm sind wir auch nicht. Irgendwo kann da ja etwas nicht richtig sein. Wir möchten gerne wissen, was da los ist, und sie haben keine Information bekommen. Dann sind sie auf die Straße gegangen. Ganz normale Leute, Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger. Mein Sohn ist Chefarzt für Innere Medizin in einer großen Klinik in der Nachbarschaft, der war auch Gegner von Stuttgart 21 mitsamt seiner ganzen Familie. Das werden wir noch oft erleben und zwar ganz einfach deswegen, weil Grundlage dieser Proteste dieses fehlende Vertrauen in die politische Substanz bedeutet.
Die Leute können auch denken, sie sind informiert, sie lassen sich nicht mehr ein X für ein U vormachen. In Stuttgart ist die Sache eskaliert. Zum Schluss ist dann die Polizei und die Bürgerinnen und Bürger aufeinander losgegangen mit Pfefferspray und Wasserwerfern, etwas was also im Schwabenland bis dahin völlig undenkbar war. Unter der Ägide von Oberbürgermeister Rommel, von dem Sie sicher auch schon gehört haben, gab es in ganz Stuttgart nicht einen einzigen Wasserwerfer und die hat man dann von außen geholt, als man geglaubt hat, das müsse man jetzt bekämpfen. Das ist eskaliert, hundert Verletzte, einer mit Blindheit, lebenslang, durch Wasserwerfer die Augen zusammengeschossen.
Die Sache eskalierte und dann hieß es, also jetzt müssen wir versuchen, dass wir das wieder in vernünftige Bahnen bringen. Dann haben sie mich gebeten, beide Seiten: die Grünen und die Landesregierung. Ich sage es nur deswegen, weil wir natürlich auch aus einem solchen Dilemma lernen müssen und weil wir auch herauskommen können, denn es kommen ja noch mehr solche Projekte, jetzt gerade im Zusammenhangt mit dem Ausstieg aus der Atomenergie, da müssen wir wissen, wie man solchen Entwicklungen begegnet. Ich habe gesagt, das geht nur unter folgenden Bedingungen: Erstens, alle an einen Tisch. Ministerpräsident, Minister, Bahnvorstand, Oberbürgermeister müssen von ihrem hohen Ross herunter und setzten sich an einen Tisch mit dem Altkommunisten Stocker und mit den Grünen und wer da sonst noch als ständig Verdächtige bei diesen Demonstrationen teilnehmen, mit dem Aktionsbündnis. Auf einer Ebene, gleichberechtigt wird ein Faktencheck gemacht: Argument gegen Gegenargument. Und die andere Seite, die muss in die Lage versetzt werden, auf Augenhöhe zu argumentieren. Das heißt, im Landeshaushalt von Baden-Württemberg wurde die Summe von 500.000 Euro bereitgestellt, um die Gutachter und die Sachverständigen der Projektgegner finanzieren zu können. Denn die Bahn und das Land, die hatten ja genügend Geld. Drittens, diese ganze Diskussion muss total transparent gemacht werden. Eines der Hauptargumente, warum die Leute der Politik nicht mehr trauen, ist doch, dass sie sagen, da wird alles hinter verschlossenen Türen ausgekungelt und dann kommt es irgendwann ins Parlament. Dann ist es aber schon entschieden, auch die Abgeordneten haben gar nichts mehr zu melden. Von Anfang an: alles Beteiligen an dieser Argumentation.
Wir haben diese Schlichtung geöffnet für das Fernsehen. Phönix hat von der ersten bis zur letzten Minute die Schlichtung übertragen, über eine Million Leute haben da zugesehen, 500.000 haben im Internet zugesehen – wir haben das ins Internet gestellt – public viewing – totale Transparenz, dieser Faktencheck. Als die Schlichtung begann, waren 26% der Leute für den Tiefbahnhof und 60% dagegen. Nach der Schlichtung, bevor ich überhaupt etwas zusammenfassend gesagt hatte, war es gerade umgekehrt, waren 58% für den Tiefbahnhof und nur noch 30% dagegen. Die Information über die Fakten hat zur Bewusstseinsbildung entscheidend beigetragen. Und deswegen, wenn man solche Projekte hat, muss man wissen, wie man mit ihnen umgeht und dafür ist dieses Stuttgart 21, die Schlichtung, ein Modell. Nur kam natürlich diese Schlichtung, das muss man auch sagen, vier bis fünf Jahre zu spät, denn die Alternative, die konnte nicht mehr richtig diskutiert werden.
Weil in Deutschland läuft die Sache anders als in der Schweiz. In der Schweiz kommt die Idee, dann wird über die Idee diskutiert – öffentlich – lange genug, und dann wird abgestimmt, so wie Sie das in Zwentendorf auch gemacht haben. Dann werden die Pläne zur Diskussion gestellt, Alternativpläne, auch Pläne der Nulllösung. Dann wird über die Pläne diskutiert und anschließend wieder abgestimmt, und dann wird gebaut. So ist der Gotthard Tunnel gebaut worden, unter diesen Voraussetzungen.
In Deutschland ist das umgekehrt. Das heißt, da bestimmt der Staat, auch der Landtag, die Parlamente, die Regierung, oder die Unternehmen. „Das machen wir!“ Der Flughafen wird gebaut, der Bahnhof wird gebaut, basta! Oder ein Unternehmen, oder sogar ein Bauer, der einen Hühnerstall am Dorfrand errichten will. Wir machen das. Und dann kommen die Planfeststellungsverfahren, da werden die Leute angehört, aber sie können nicht mitbestimmen, sondern sie werden „beschieden“, von oben. Es wird ihnen gesagt von der Behörde, ihr habt Recht oder ihr habt Unrecht. Dann können sie möglicherweise noch klagen vor den Gerichten und dann wird ihnen wieder von oben beschieden: So wird’s gemacht und so wird’s nicht gemacht. Mit dieser Methode werden wir in Europa die gewiss notwendigen ökonomischen und technischen Entwicklungen nicht mehr bewältigen können.
Wir brauchen eine neue Form der direkten Bürgerbeteiligung, wir brauchen stärkere Elemente der unmittelbaren Demokratie, nicht die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Zum Beispiel am Ende eines Faktenchecks kann auch das Parlament abstimmen, das muss keine Volksabstimmung sein. Über die Einzelheiten kann man immer diskutieren. Aber so, wie es jetzt ist, kann es zumindest in Deutschland nicht bleiben. Das ist das Fazit aus dem, was wir mit dem Bahnhof erlebt haben.
Aber ich komme zurück auf die Ursache. Wir werden diese Protestentwicklung in der Zukunft verstärkt haben, wenn wir nicht die Ursache beseitigen, dass nämlich die Menschen wieder langsam das Vertrauen gewinnen in die Politik. Zum Beispiel in der Beantwortung der Frage: „Können sich die demokratisch gewählten Regierungen und Parlamente gegen die Macht der Finanzmärkte durchsetzen?“ Und diese Frage, die müssen Sie alle miteinander, auch der Herr Landeshauptmann und ich, alle, mit „nein“ beantworten. Sie können sich nicht durchsetzen.
Die G20 Staaten haben die Vorschläge erarbeitet für eine Reform der internationalen Finanzstruktur. Kaum ein einziger dieser Vorschläge ist bisher realisiert worden. Wir haben unglaubliche Exzesse auf dieser Erde. Wir haben einen börsentäglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar – jeden Tag. Zwei Billionen Dollar. Das reicht gar nicht, da werden nochmal hunderte von Milliarden hin- und hergeschoben um hundertstel Prozentpunkte Gewinne herauszuschinden, die dann – man soll’s nicht glauben – mitten in Europa steuerfrei geparkt werden in den Offshore Centers: Kanalinseln, Schweiz, Liechtenstein, kleines Walsertal; ein bisschen weiter weg: Kaimaninseln, Bermudainseln – um dann am anderen Tag in dieses „global gambling“ eingespeist zu werden, in dieses globale Spiel der Spekulanten mit Devisen und Derivaten, woraus diese gesamte, gigantische Finanzindustrie entstanden ist, mit der wir es heute zu tun haben.
Im Jahre 1980 lag das Welt-Bruttosozialprodukt bei 12 Billionen Dollar. Die Geldmenge, die auf der Welt vorhanden war, angelegt wie auch immer, betrug ebenfalls 12 Billionen Dollar, das heißt, sie entsprach der realen Ökonomie. Heute haben wir ein Welt-Bruttosozialprodukt von 50 Billionen Dollar. Das ist okay, es ist die Weltwirtschaft gewachsen. Aber wir haben eine Geldmenge von 150 Billionen Dollar, das heißt, 100 Billionen Dollar haben keinen entsprechenden ökonomischen Gegenwert auf dieser Erde. Es ist frei floatendes Geld. Und dieses Geld befindet sich im Besitz und in der Gewalt, so muss man schon sagen, von 50.000 Brokern, Investmentagenten, Investmentbankern. Sie bestimmten, was mit diesem Geld geschieht. Kein Parlament, nicht die Regierung. Sie sind nicht in der Lage sich gegen den Börsenplatz in London durchzusetzen, zum Beispiel, oder gegen den immer noch vorhandenen mehrheitlichen Widerstand im Kongress in den Vereinigten Staaten durch die Republikaner.
Wir müssen jetzt eine Antwort geben – und ich will das tun – auf diese Fragen, die ich aufgeworfen habe. „Wie soll es weitergehen?“ Und da ist zum Beispiel ein „Think Tank“ von entscheidender Bedeutung. Denn wir haben ein Vorbild, das auch durch einen Think Tank entstanden ist.
Aristoteles hat einmal gesagt, Politik sei nichts anderes, als das Bemühen, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Und dann kommt es auf die Frage an, was ist die richtige Ordnung? Und in der Antike hatte man die Pax Romana. Eine Frage, mit der sich die Menschen beschäftigen, seit sie überhaupt denken können. Die Philosophen aller Zeiten haben sich darüber Gedanken gemacht: die Pax Romana, die Zwei-Reiche-Lehre im Mittelalter, L‘état c‘est moi, die absolute Monarchie der Bourbonen. Die Kommunisten hatten eine Ordnungsvorstellung, die Nazis hatten eine Ordnungsvorstellung.
Was haben wir für eine Vorstellung von der richtigen Ordnung? Diese Frage wird zurzeit in der Weltpolitik aber auch in Deutschland – soweit ich sehe auch in Österreich – nicht beantwortet, wie die richtige Ordnung aussehen soll. Alle sind immer noch verhaftet in diesem kapitalistischen Denken. Es war nämlich in Deutschland gefährlich, weil durch die Wiedervereinigung die Ostdeutschen in dieses vereinigte Land gekommen sind und denen haben die Kommunisten im Kindergarten bis zur Schule jeden Tag erzählt, der Kapitalismus ist das schlimmste, was es gibt auf dieser Erde. Da sie aber aus ihrer eigenen Erfahrung wussten, dass der Kommunismus nicht gerade das Beste ist, haben sie sich im umgekehrt negativ-reziproken Denkschluss gesagt, also muss der Kapitalismus etwas Gutes sein. Das ist bis heute aus vielen Köpfen Ostdeutscher Abgeordneter nicht herauszukriegen.
Aber, das bin ich auch vorhin gefragt worden, wenn ich eine solche Rede halte, wie jetzt vor Ihnen, ist das kompatibel mit Deiner Partei? Mit der Christlich Demokratischen Union? Oder stellvertretend für die ÖVP? Der Kapitalismus ist nicht die Wirtschaftsphilosophie der CDU und ich glaube auch nicht der ÖVP, sondern die Wirtschaftsphilosophie heißt „Soziale Marktwirtschaft“. Soziale Marktwirtschaft ist etwas anderes, sie ist nicht eine Variation des Kapitalismus. Die soziale Marktwirtschaft ist ein geistiges, ein denkerisches, ein ethisches Bündnis des Ordoliberalismus der Freiburger Schule: Walter Eucken, Wilhelm Röpke, später Alfred Müller-Armack, dann Ludwig Erhard für die Politik übernommen. Ein geistiges Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus, nicht dem Neoliberalismus, wie die heutigen Liberalen in Österreich, in Deutschland, ständig missverstehen. Ordoliberalismus. Ein Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik.
Das wichtigste Buch, das Ludwig Erhard geschrieben hatte, lautete „Wohlstand für alle“. Und das haben die auch so gemeint, wie sie es geschrieben haben. Die Vorstellung, dass es in Deutschland ein Prekariat gibt von 10 Millionen Menschen, die ein Einkommen haben unterhalb des Mindesteinkommens, also der Hälfte der Durchschnittseinkommen, wäre für diese Leute damals völlig unvorstellbar gewesen. Wohlstand für alle. Sie hätten sich mit der heutigen Situation nicht abgefunden. Wenn man sich heute damit abfindet, dass zum Beispiel zwei Millionen Kinder von Hartz 4, also von der Sozialhilfe, abhängig sind und sechs Millionen Menschen ebenfalls Hartz 4‑Empfänger sind, obwohl die meisten von ihnen acht Stunden am Tag arbeiten… das ist heute in Deutschland alles möglich. Wenn Sie wissen wollen, warum die großen Volksparteien immer mehr Stimmen verlieren, dann liegt die Ursache in dieser Entwicklung.
Die sozialen Marktwirtschaftler hatten noch ein anderes Prinzip. Sie kannten nämlich den geordneten Wettbewerb und nicht den freien Markt von Milton Friedman — möglichst wenig Staat — sondern den geordneten Wettbewerb, weil sie genau wussten, wenn der Wettbewerb nicht geordnet ist, dann haben wir zum Schluss nur mehr Oligopole und Monopole und kleine und mittlere Betriebe haben überhaupt keine Chance mehr. Und so ist es ja auch gelaufen in den letzten Jahrzehnten.
Megalomanie, Gigantismus, vor allem eben befördert durch die Globalisierung, die unvermeidbar ist, die auch notwendig ist. Die aber dazu führt, dass die Ökonomie sich von diesem Ordnungsrahmen, den der Nationalstaat bisher garantiert hat, eben befreit, entfernt, und plötzlich Werte als absolut gelten, die vorher eingeordnet waren: die Dividende am Ende des Jahres, der Aktienkurs, der Börsenwert eines Unternehmens. Shareholder value nannte man diese Philosophie. Wo eben das Geld, das Entscheidende war und nicht die Menschen. Dann kam ja einer wie Jürgen Schrempp von Daimler-Benz und meinte in der Zukunft werden die Global Players auch die Weltpolitik bestimmen. Und im Zuge der Globalisierung sind die Unternehmen ja auch immer größer geworden, immer größer, immer größer. Daimler, Chrysler, Mitsubishi, Weltfirmen. Rhône-Poulenc, Hoechst, filetiert, auseinandergenommen. Sanofi ist daraus geworden, zusammengebracht Aventis-Sanofi, einer der größten Chemiekonzerne der Erde. Immer größer – Megalomanie: Goldman Sachs, Lehman Brothers, Hypo Real Estate, ich habe ein paar Namen genannt.
Wir wissen ja aus dem Volksmund: Sie kennen vielleicht die Geschichte von dem reichen katholischen Aktionär, der Zeit seines Lebens seiner Pfarre große Spenden gemacht hat, Dotationen. Der Pfarrer hat eines Tages zu ihm gesagt: „Hören Sie mal, wenn Sie sterben, Sie kommen direkt ins Paradies.“ Der Bischof von Speyer, der von dem Geldsegen auch etwas abbekommen hat, hat das oberhirtlich bestätigt. Dann ist aber der Aktionär, wie die Zeit verläuft, gestorben. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein, Sie alle auch: Von 100 Leuten sterben 100. Ist nichts zu machen. Und der Tod ist auch total demokratisch, er packt jeden. Er packt den Busfahrer hier in Gmunden und er packt natürlich auch den Aktionär. Also ist er gestorben, der reiche Aktionär, und da kam er in den Himmel. Da stand er vor dem Himmelsportal und da dachte, es öffnen sich die Portale und es regnet Manna, die Engel singen Halleluja und die Posaunen erschallen. Und in der Tat öffnen sich die Tore und was sieht der Aktionär? Rabenschwarze Nacht, es stinkt nach Pech und Schwefel und in der Mitte steht der Teufel. Da sagt der Aktionär: „Aber man hat mir doch das Paradies versprochen!“ Da sagt der Teufel: „Nur hereinspaziert, wir haben fusioniert“. Das ist genau die Entwicklung, die wir in der Weltökonomie gehabt haben. Einige wenige haben den Himmel bekommen und die anderen landen im Fegefeuer oder in der Hölle.
Was ist zu ändern, wenn wir diese Entwicklung stoppen wollen und wenn wir vor allem etwas erreichen wollen, was bisher immer noch die Stabilität bei uns bewirkt hat, nämlich diese Trias, diese Einheit von Demokratie, Sozialstaat und Marktwirtschaft? Es gibt keine Alternative zum Markt, aber der Markt muss geordnet sein. Und er muss gerecht sein innerhalb einer Gesellschaft, die demokratisch genannt werden möchte. Wenn eine dieser Säulen wegbricht, dann kommt das ganze ins Wanken.
Ich glaube, dass wir das Denken konzentrieren müssten, vielleicht auch eine Aufgabe für einen Think Tank dieser Qualität, dass wir nämlich über die Philosophie nachdenken, die jeder Politik zugrunde liegen muss. Und wenn ich jetzt noch einmal Aristoteles nehme und die soziale Marktwirtschaft, die ja eine Antwort gegeben hat auf diese Ordnungsfrage, dann kann man ja vielleicht eine Antwort finden, was die richtige Ordnung ist, bei den großen Philosophen.
Kant hat darauf eine Antwort versucht mit dem Kategorischen Imperativ: Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns auch zum Inhalt der allgemeinen Gesetzgebung werden kann. Aber wegen des ihm innewohnenden Subjektivismus reicht es eben auch nicht aus. Denn, ob die Maxime, die ich für richtig halte auch von Ihnen für richtig gehalten wird, ist eine offene Frage, selbst am Ende dieser Veranstaltung. Und was die Alice Schwarzer für richtig hält in der Frauenfrage, dafür käme sie im Iran ins Zuchthaus oder in irgendeine schlimme Anstalt.
Wir müssen eine noch tiefer gehende Frage stellen und Sie werden natürlich zunächst einmal sagen: „Ja diese Frage, die ist ja so primitiv und banal, was soll denn die eigentlich für eine Bedeutung haben?“ Aber Sie werden sehen, die Antwort auf diese Frage hat knallharte politische Konsequenzen. Wir müssen nämlich die Frage stellen – und das ist die Frage nach den Basics, nach den grundlegenden Werden, auf denen Politik und Ökonomie aufbauen müssen – wir müssen die Frage stellen: „Was ist der Mensch?“ oder, noch genauer „Wer ist der Mensch?“. Und glauben Sie ja nicht, dass das in der Weltgeschichte immer eindeutig beantwortet worden ist.
Karl Marx hat in einer seiner frühen Schriften zur Judenfrage gesagt, der Mensch wie er geht ist nicht der eigentliche Mensch sondern er muss der richtigen Klasse angehören und das richtige gesellschaftliche Bewusstsein haben. Bei den Nazis musste man der richtigen Rasse angehören, bei den Nationalisten der richtigen Nation bis auf den heutigen Tag, bei den Fundamentalisten der richtigen Religion, sonst wird man ausgepeitscht, wie in Saudi Arabien oder wie bei uns vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Oder bei wieder anderen Fundamentalisten darf der Mensch ja nicht das falsche Geschlecht haben, er darf ja keine Frau sein, sonst ist er von vorne herein ein Mensch zweiter Klasse. Die wohl am weitesten auf der Welt verbreitete negative Kategorisierung des Menschen: Frau zu sein. 3,4 Milliarden auf dieser Erde sind Frauen. Es gibt keinen Bevölkerungsteil auf dieser Erde, der mehr diskriminiert, entrechtet, gequält, geschunden und versklavt wird, wie die Frauen, bis auf den heutigen Tag. Wir haben eine Milliarde Analphabeten, davon sind 80% Frauen, 800.000 Millionen. Aber nicht deswegen, weil die Frauen dümmer sind, als die Männer, sondern weil sie in den von den Männern errichteten Herrschaftssystemen systematisch von den Bildungseinrichtungen ferngehalten werden. Hundert Millionen von Frauen sind beschnitten, man hat ihnen die Klitoris verstümmelt, weggeschnitten; aus Stammesgründen, aus religiösen Gründen. Jedes Jahr kommen 4 Millionen dazu.
In Deutschland sind es bereits 60.000. Es wird beschönigt und dann wird gesagt, das alles geschieht unter der Überschrift „Religionsfreiheit“. Das hat mit Religionsfreiheut überhaupt nichts zu tun. Das ist eine Schande, eine Blasphemie wenn irgendjemand behauptet, Allah oder Gott hätten die Verstümmelung von Frauen verlangt. Wo bleibt der Protest eigentlich? Hier warte ich noch auf den Protest der Menschen. Und rechtlich gesehen, ist es nicht unter Religionsfreiheit zu subsumieren, es ist ein Verstoß gegen Artikel zwei des Grundgesetzes in Deutschland und ist schwere Körperverletzung, die von den Staatsanwaltschaften in Europa von Amts wegen verfolgt werden müssen.
Ein erster Schritt, um die Frage zu beantworten: Was folgt eigentlich aus der Tatsache? Aus der Frage: Wer ist ein Mensch? Wenn die Leute in den vergangenen Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag zur falschen Kategorie gehörten, wenn man sie liquidiert, gesteinigt, vergast, zu Tode gefoltert, oder sonst wie umgebracht hat. Die falschen Menschenbilder waren und sind die Ursachen für die schwersten Verbrechen und die übelsten politischen Verfehlungen, die die Menschen zustande gebracht haben. Jetzt haben wir die Frage nach dem, was uns zusammenhält.
Wir müssen wieder wissen, wer ist ein Mensch, was ist der Mensch. Diese Frage nach dem Menschenbild, die können wir ja nicht beantworten indem wir sagen, irgendein Abklatsch dieser bisherigen Menschenbilder, sondern es muss ja wohl das kategorische Gegenteil sein. Der Mensch, wie er geht und steht, ist der eigentliche Mensch, unabhängig davon, ober er Mann oder Frau ist. Aber auch unabhängig davon, ob er alt oder jung ist. Wir dürfen nicht so leben, dass die nach uns Kommenden, unsere Kinder und Enkelkinder, ihr Glück gar nicht mehr finden können; dass wir sie in ihrer Menschwürde verletzen.
Der Mensch, wie er geht und steht, ist in seiner Würde unantastbar, auch diejenigen, die nach uns kommen. Aber umgekehrt gilt es auch. In England bekommen Leute, die älter sind als 80 Jahre, keine Bypass Operation, kein künstliches Hüftgelenk. Die werden vom Dialyseapparat abgeschaltet, es sei denn, sie haben genügend privates Gelde, um es aus der eigenen Tasche zu finanzieren. Und bei den allermeisten reicht das Geld eben nicht aus. Dann haben wir die Zwei-Klassen-Medizin und die findet heute schon in Deutschland statt. Die eigentliche Ursache – jetzt sind wir wieder bei dem Misstrauen – ist darin zu sehen, dass diese Ökonomisierung der Gesellschaft unser ganzes Gesundheitswesen beherrscht. Der Mensch wird zum Kostenfaktor degradiert. Der Patient, der mutiert selbst in den offiziellen Dokumenten der Caritas, zum Kunden, als ob das Gesundheitswesen ein Kartoffelmarkt wäre oder eine Maschinenfabrik. Der Arzt im Krankenhaus, der verändert sich zum Fallpauschalen-Jongleur, der 30% seiner Arbeitszeit darauf verwenden muss, die richtige Fallpauschale zu finden für den medizinischen Eingriff, den er gerade vorgenommen hat, aber nicht die richtige Fallpauschale für den Patienten oder für ihn, sondern für den 35jährigen Geschäftsführer des Krankenhauses, der in der Regel außer Betriebswirtschaftslehre nichts, aber überhaupt nichts, gelernt hat; aber entscheiden will darüber, welche Medikamente angeschafft werden, welche Instrumente eingesetzt werden. So mutiert dann das Krankenhaus zum an der Gewinnmaximierung orientierten Unternehmen.
Das Problem haben Sie in Ihrem schönen Land zurzeit, wie ich höre. Ich bin diesem Problem auch begegnet als Gesundheitsminister. Das Argument ist das Geld. Das Geld reicht nicht, also wird gespart. Wo wird gespart? Da hat der Landeshauptmann, wie ich gelesen habe, etwas ganz richtiges gesagt: Es darf nicht an der Sicherheit gespart werden, auch nicht am Personal. Aber man muss rationalisieren bei den Fachabteilungen. Das ist ein guter und ein richtiger Weg. Anders habe ich das auch nicht machen können. Aber das ist natürlich auf die Dauer keine Lösung. Denn das Geldproblem bleibt. Nur das kann der Herr Landeshauptmann nicht lösen, genau so wenig, wie ich es lösen konnte. Warum kann er es nicht lösen? Weil etwas eben nicht realisiert wird, in diesem Wirtschaftssystem, was aber möglich wäre, nämlich die Erkenntnis umgesetzt in die Tat.
Es gibt nicht zu wenig Geld. Es gibt auf der Erde Geld wie Heu, Geld wie Dreck. Es ist nur völlig falsch verteilt. Die Spekulanten, die jeden Tag an der Börse dieser Erde zwei Billionen Dollar umsetzen, die haben eine privilegierte Stellen. Sie müssen von jeder Windel und von jeder Kaffeetasse und von jeder Maschine, Küchenmaschine, die Sie brauchen, Umsatzsteuer bezahlen. Die Spekulanten, die müssen von den zwei Billionen, die sie jeden Tag umsetzen, nicht einen müden Cent beisteuern zur Finanzierung der humanen Aufgaben dieser Erde. Wenn wir eine Börsenumsatzsteuer, eine internationale Finanztransaktionssteuer einführen würden, nur in Europa, ergäben das 34 Milliarden Euro, weltweit 140 Milliarden Dollar. Die UNO braucht zur Finanzierung ihrer Millenniumsaufgaben, also Brunnen bohren in Afrika, Halbierung der Armut, alle Kinder in die Schule, Bekämpfung der Volkskrankheiten, 100 Milliarden. Wir hätten noch 40 Milliarden übrig für die anderen Aufgaben.
Die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer steht auf der Agenda der G20 Staaten, das haben die Staaten beschlossen. Sie steht inzwischen im Grundsatzprogramm der CDU, wird propagiert von Angela Merkel genauso wie vom Finanzminister Schäuble und vom französischen Staatspräsidenten und ich glaube auch von den Parteien hier in Österreich. Aber es wird nicht umgesetzt. Warum? Weil zum Beispiel die Engländer, die den größten Finanzplatz der Erde in London haben, nicht mitmachen. Die Mehrheit im Kongress in Amerika auch nicht, ich habe es schon gesagt.
Also entscheiden die Leute in ihrem Inneren, dass die Politik setzt sich nicht durchsetzt. Sie schafft es nicht. Und nach wie vor haben diese anonymen Mächte in der Welt das Sagen und das muss sich ändern. Das kann sich nur ändern durch politische Entscheidungen. Dafür müssen die politischen Parteien kämpfen, dass Maßnahmen ergriffen werden, dass der Mensch befreit wird aus diesem menschenunwürdigen Konstrukt, dieser Diskriminierung, Kostenfaktor zu sein.
Wir können diese Probleme lösen, aber nur wenn das, was auch in Europa an Werten immer vorhanden war, reaktiviert wird: Dass das Eintreten für Menschrechte – deswegen war die Libyen-Entscheidung so eine Katastrophe von dem deutschen Außenminister – Bestandteil der Außenpolitik der europäischen Demokratien sein muss; und dass vor allem das Erkennen, dass zum Menschen eben auch die Erkenntnis gehört, dass der Mensch ein Sozialwesen ist – ein Sozialwesen auch in der Relation zur Natur und zur Umwelt.
Nächstenliebe ist ja so ein Wort, das wagt man gar nicht mehr in den Mund zu nehmen in ökonomischen Kreisen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist einmal ein Artikel gekommen, da hieß es: Nächstenliebe, da wird wieder darüber geredet, was soll denn das eigentlich in einer globalisierten modernen Welt… Wer ist denn der Nächste? In dem Artikel wurde das rauf- und runterdekliniert und richtig lächerlich gemacht.
Vor 2000 Jahren hatte der Erfinder der Nächstenliebe ähnliche Probleme. Bei den alten Juden gab es auch Nächstenliebe, aber der Nächste war genau definiert, das war nämlich der Volksgenosse und diejenigen, die Gastrecht hatten. Da kamen ja, wie Sie wissen, die Pharisäer zusammen und haben beratschlagt: Meint der denn unter Nächstenliebe dasselbe wie wir? Dann haben sie einen zu ihm geschickt und da hat Jesus die FAZ-Frage gestellt: „Sag mal, Rabbi, wer ist denn der Nächste?“ Und dann hat Jesus nicht direkt geantwortet, sondern er hat eine Geschichte erzählt. Diese Geschichte ist das weitere Fundament für das, was wir in der Zukunft machen müssen. Jesus erzählte die Geschichte aus dem Wadi el Kelt von der Aduminsteige, der Blutsteige, die herabzieht von Jerusalem nach Jericho, berüchtigt wegen Mord- und Todschlag. Er erzählte die Geschichte von dem Juden, der dort überfallen wird, blutig geschlagen, ausgeraubt. Er liegt da, am Weg, da kommt der Priester vorbei, lässt ihn liegen, kommt der Levit (wir würden heute sagen, der Organist), der lässt ich auch liegen und jetzt kommt – und das ist die eigentliche Provokation gewesen – der Abweichler, der Renegat, der Apostat, der Feind, der eigentliche geistige Gegner, der Mann aus Samaria. Denn die Samariter ließen nur die fünf Bücher Moses gelten und die anderen Propheten waren für sie Makulatur. Und jetzt, sagt Jesus, ausgerechnet der versorgt den Verletzten medizinisch, bringt ihn ins nächste Hotel und gibt dem Wirt sogar noch Geld. Jetzt erst stellt er die Gegenfrage, die entscheidende Gegenfrage. Wir meinen ja immer, der Nächste sei der Verletzte, aber Jesus fragt den Pharisäer etwas anderes. Er fragt nämlich, wer von den Dreien war der Nächste für den Verletzten? Da musste der Pharisäer sagen, der Apostat; derjenige, der ihm geholfen hat, der Samariter.
Was heißt das? Nächstenliebe ist nicht Gutmenschentum, ist nicht platonische Angelegenheit, sondern Nächstenliebe ist die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Ich muss nicht die ganze Welt lieben, von Kamtschatka bis zum Südpol möglichst viele, damit es möglichst unverbindlich wird. Ich muss auch nicht den Silvio Berlusconi lieben, oder sonst irgendjemand, muss ich alles nicht. Mir wird schon schlecht bei dem Gedanken, ich müsste alle Mitglieder meiner Fraktion in Berlin lieben, muss ich nicht. Wenn ich an die SPD denke, wird’s mir auch schlecht. Muss ich alles nicht. Aber ich habe die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Wenn einer nicht in Not ist, muss ich ihm auch nicht helfen. Aber die Not, die ist auch bei uns unmittelbar vor der Haustür. Natürlich ist die Not in Bangladesch eine andere, als in Linz oder in Stuttgart. Aber Sie können schon eine mittelschwere Krankheit aus der eigenen Tasche gar nicht mehr finanzieren. Das heißt, Sie sind auf die Solidarität ihrer Mitmenschen angewiesen.
Was wird aber den jungen Leuten heute gepredigt? Heute wird den Leuten nicht mehr gesagt, solidarisch muss man sein für diejenigen, die in Not sind, sondern: Jeder sorgt für sich selber; am besten dadurch, dass er einen Kapitalstock bildet. Aber es wird nicht gesagt, was machen wir dann mit denen, die einen Kapitalstock gar nicht bilden können? Die Verkäuferin im Coop, beim Lidl, Aldi, die Busfahrer, was machen die eigentlich? Oder was machen eigentlich diejenigen, bei denen der Kapitalstock Pleite gegangen ist durch diese Finanzkrise? Keine Antwort des Neoliberalismus. Jeder sorgt für sich selber.
Diese Mentalität zerstört unsere Gesellschaft. Die Zerstörung der Solidarität zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und der Natur. So ist das amerikanische Sozial- und Gesundheitswesen im Prinzip bis heute noch organisiert. In der letzten Rede, die Bill Clinton gehalten hat, hat er gesagt: “Heute haben wir wieder 700.000 neue Jobs registrieren können als Ergebnis des letzten Jahres“. Da hat sich gleich am anderen Tag einer aus Detroit gemeldet und gesagt: „Davon hab ich drei“. Die Situation haben wir bei uns auch in Deutschland inzwischen: Minijobs.
Aber wenn die Leute einmal 18 Stunden am Tag arbeiten müssen, in drei verschiedenen Jobs, um über die Runden zu kommen, da werden die Ehen zerstört, die Familien krachen auseinander, die Kinder verwahrlosen. Das amerikanische Erziehungsministerium hat festgestellt, dass 25% der Amerikaner inzwischen Analphabeten sind, es sind die Kinder dieser working poor Leute. Und auf 100.000 Einwohner kommen in Amerika 12 Kapitalverbrechen. Bei uns und in Deutschland sind es gerade – noch – zwei. Aber es ändert sich schon.
In Kalifornien müssen sie für die Gefängnisse mehr Geld an Investitionen ausgeben, als für alle anderen Investitionen – Krankenhäuser inklusive – zusammengenommen. Der amerikanische Soziologe Friedman hat einmal hochgerechnet: Wenn das mit der Kriminalität so weitergeh – nämlich sitzen jetzt ungefähr 6 Millionen Amerikaner verurteilt rechtskräftig im Gefängnis, dann werden im Jahre 2040 die Hälfte der Amerikaner im Gefängnis sitzen und sie werden von der anderen Hälfte bewacht.
Selbst der überzeugteste Monetarist und Kapitalist könnte einsehen, dass die Zerstörung der Solidarität in einer Gesellschaft auf die Dauer uns allen viel teuer kommt, als wenn wir den Menschen wieder so sehen, wie er ist: In seiner Menschenwürde unantastbar, unabhängig von Herkunft und Einkommen und Geschlecht und, dass er eine soziale Verpflichtung hat, den anderen gegenüber und der Umwelt gegenüber.
Das ist die Basis der Politik und auch der Ökonomie für die Zukunft. Es ist eine philosophische Frage, es ist eine ethische Frage, von deren Beantwortung abhängt, ob alle Neuerungen, alle großen Erfindungen zu der die Menschen fähig sind, auch tatsächlich den Menschen zugutekommen. Das hängt von uns ab. Das ist eine politische Frage. Deswegen brauchen wir im Übrigen eine Weltregierung. Das können wir auf der nationalen Ebene gar nicht lösen. Wenn Sie mir jetzt sagen: „Eine Weltregierung, das ist ja völlig utopisch!“ – sie wird kommen, sie wird kommen müssen. Wenn ich im Jahre 1988 hier bei Ihnen gewesen wäre und ich hätte gesagt, im Jahre 1998 gehören Tschechien, Polen und Ungarn zur NATO und zur Europäischen Union, dann hätten Sie mich wahrscheinlich in die nächste Psychiatrie gebracht. Innerhalb eines Jahrzehntes ist es Realität geworden.
Die Welt rückt immer enger zusammen. Die Zeitläufe spielen sich immer schneller ab. Die Zukunft rückt immer näher. Was wir brauchen, ist ein Konzept für die Zukunft auf der Basis dieser Ethik. Das Konzept einer internationalen-öko-sozialen Markwirtschaft, verbunden mit einem globalen Marshall-Plan, wie er vor allem in Österreich auch von führenden ÖVP-Politikern entwickelt worden ist. Er befindet sich auf dem Vormarsch, dieser Gedanke. Wir brauchen ein Konzept und vielleicht können Sie in Ihrem Think Tank auch daran weiter mitarbeiten. Dann brauchen wir mutige Frauen und Männer, die bereit sind, für dieses Konzept zu kämpfen. Die soziale Marktwirtschaft ist 1947 im Wirtschaftsrat mit einer Stimme Mehrheit durchgesetzt worden. Sie können sich leicht ausrechnen, wenn das anders herum gelaufen wäre, welche Entwicklung Deutschland, möglicherweise auch Österreich, ganz Europa, genommen hätte. Aber es waren Menschen, die hatten die richtige Idee und sie waren mutig und sie haben dafür gekämpft. Genau das ist es, was wir brauchen.
Deswegen bin ich auch gerne hierhergekommen, weil das auch eine Veranstaltung ist, die von einer großen wichtigen Partei mitgetragen wird. Nicht allein, aber wir brauchen die politischen Parteien, wir brauchen auch die Nichtregierungsorganisationen. Wenn einer in einer politischen Partei nicht mitarbeiten will, dann soll er in den Nichtregierungsorganisationen mitmachen, bei Greenpeace, bei Attac. (Ich bin Mitglied von Attac, nicht, weil das eine Vereinigung ist zur Bekämpfung der Polizei; weil Attac die Abkürzung ist für Organisation zur Einführung der internationalen Finanztransaktionssteuern Globales Netzwerk junger Leute.) Mitmachen: in den politischen Parteien, in diesen großen Vereinigungen, die natürlich auch die Grundlage sein können für die zivilgesellschaftliche Struktur, die Selbstinszenierung der Zivilgesellschaft in diesen Aktionsbündnissen und in diesen Bürgerinitiativen. Das ist die Chance, die wir haben. Und ich bin ein anthropologischer Optimist: Wir haben die früheren Fragen auch gelöst aber wenn wir sie in der Zukunft lösen wollen, dann brauchen wir eben auch einen Think Tank. Nicht nur einen, aber möglichst viele, der so gut ist wie der hier, den wir hier in Gmunden haben und wozu ich Ihnen gratuliere. Vielen Dank.