Die „digitale Gesundheitsrevolution“ und personalisierte Medizin sollte sich nicht nur auf Krankheiten beschränken. Nicht nur die Krankheit, sondern der Mensch mit seiner Krankheit sollte behandelt werden, sonst könnte im schlimmsten Fall das Ergebnis lauten: „Operation gelungen, Patient tot.“ Arzneimittelnebenwirkungen zählen auch heute noch zu den häufigeren Todesursachen.
Es ist schon lange eine Binsenweisheit, dass nicht alle Medikamente bei allen gleich wirken. Im medizinischen Alltag bekommt der Patient aber noch immer ein Medikament verordnet und man schaut, wie es bei ihm wirkt. Um es überspitzt zu formulieren, er ist sein eigenes Versuchskaninchen, was die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen betrifft. Warum gelangt z.B. pharmakogenetisches Wissen von der Universitätsebene nicht an die Basis und ändert die Verschreibungspraxis? Als Pharmazeutin hatte ich schon im Jahr 2010 bei einer Fortbildungsveranstaltung die ersten Beispiele präsentiert bekommen, wo es sinnvoll wäre, diese Methode anzuwenden, aber sie war zu diesem Zeitpunkt noch zu wenig ausgereift. Aber auch heute können Ärzte zum Teil nicht einmal mit dem Begriff Pharmakogenetik selbst etwas anfangen oder es gibt unglaubliche Killerargumente dafür, sich mit dieser Materie nicht auseinandersetzen zu müssen. Das Wissen zu einer individuelleren Medikation wird schon seit dem Jahr 2000 in einer öffentlich zugänglichen Datenbank an der Universität Stanford weltweit gesammelt und die Studien nach ihrer Aussagekraft auch dazu bewertet.
Warum nimmt man trotzdem noch immer in Kauf, dass Arzneimittelnebenwirkungen zu den häufigeren Todesursachen zählen?
Der Fall eines Wiener Mädchens, das nach einer Hustensaftgabe mit Codein am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht war, ging durch die Medien. Die Verwendung von Codein wurde bei Kindern unter 12 Jahren untersagt. Trotzdem tauchen noch immer magistrale Rezepturen mit Codein auf, die für Kindern verschrieben werden. Eine Kollegin von mir bekam ein Rezept mit einer Verschreibung für einen 6‑monatigen Säugling vor ein paar Wochen. Um die Bedeutung davon zu verstehen, muss man wissen, dass Codein ein Prodrug ist und über das Enzym CYP2D6 in die wirksame Form Morphin umgewandelt wird. Morphin wirkt auch dämpfend auf das Atemzentrum. 2 % der Österreicher und damit 2% der österreichischen Kinder sind ultrarapid metabolizer bei CYP2D6, das heißt sie wandeln sehr viel schneller als normal Codein zu Morphin um. Wenn man aber zu schnell zu viel Morphin umwandelt, bekommt man eine viel zu hohe Dosis ab, selbst wenn der Hustensaft ordnungsgemäß eingenommen wurde.
Mein Thema ist aber nicht nur die Pharmakogenetik, sondern die Arzneimittelsicherheit und ‑verträglichkeit im Allgemeinen, dazu gehören auch die öfters übersehenen Arzneimittelinteraktionen, falsche Dosierungen bei eingeschränkten Nieren- oder Leberfunktionen oder die völlig ignorierte mitochondriale Toxizität von Arzneistoffen.
Seit meiner Brustkrebserkrankung habe ich mich sehr bemüht, dafür ein Problembewusstsein zu schaffen, und versucht durch Gespräche mit vielen Ärzten zu verstehen, warum hier keine Änderung der gängigen Verschreibungspraxis in Sicht ist.
Eine Hauptursache ist sicher der Zwang zu schnellen Entscheidungen in unserem Gesundheitssystem und für den einzelnen Patienten verbleibt wenig Zeit. Ein Arzt kann nicht in den verschiedenen Datenbanken während seiner Sprechstunden nach Infos zu den Medikamenten suchen. Das wird im Normalfall erst gemacht, wenn Probleme auftreten. Damit komme ich auch schon zu dem Punkt, dass Ärzte dringend eine schnelle Entscheidungshilfe brauchen, wo sie auch vor für den einzelnen Patienten gefährlichen Verschreibungen gewarnt werden, die den Patienten massiv schädigen können. Das Wissen aus den verschiedenen Datenbanken muss viel einfacher und schneller aufbereitet werden, sodass man es auch bei der Arbeit vor Ort, sprich wenn der Patient anwesend ist verwenden kann und man sollte auch persönliche Daten (Pharmakogenetik, physiologische Parameter usw.) zur Entscheidungshilfe einspielen können. Dieses System sollte auch in der Apotheke anwendbar sein und zumindest sollten die Feineinstellungen bei der Medikation ausgebildete klinische Pharmazeuten übernehmen.
Für so ein Projekt benötigt man wirklich gute Informatiker, denn wenn solche Programme nicht anwenderfreundlich gemacht werden und hier nicht schnelle Informationen geliefert werden können, werden sie nicht verwendet werden. Es ist eine Einbindung und Verknüpfung von Personen, die im Gesundheitswesen eine wirklich innovative Lösung schaffen wollen, dringend erforderlich. Könnte dies nicht ein Leuchtturmprojekt für Oberösterreich werden? Kann sich außerdem unser Gesundheitssystem den Luxus leisten, die Pharmazeuten, besonders die in den öffentlichen Apotheken, hauptsächlich als Logistiker für Medikamente zu sehen? Wenn man schon nicht an die Patienten denkt, könnte eine veränderte Medikation nicht auch langfristig eine Kostenersparnis für unser Gesundheitssystem darstellen? Verringerung unnötiger Spitalsaufenthalte, Reduktion der Medikamentenzahl bei Polypharmazie, verbesserte Compliance des Patienten usw.
Die Alternative ist, dass man so weiter wurschtelt wie bisher.
Zur Autorin:
Mag. Sabine Obrecht-Pock ist Apothekerin aus Walding in Oberösterreich.