Stefan Ruzowitzky: Wagen wir uns aus unserer Komfortzone heraus!

Das Interview beim Symposium 2018 zusammengefasst von Philipp Blom

Ich hat­te immer das Gefühl, dass man als Öster­re­ich­er und als Enkel von Großel­tern, von denen manche Parteigänger und lei­den­schaftliche Nazis waren, irgend­wann in seinem Leben als Geschicht­en­erzäh­ler etwas zu diesem wichti­gen Teil sein­er Ver­gan­gen­heit, der Ver­gan­gen­heit sein­er Fam­i­lie, machen sollte.

Es gibt einen amerikanis­chen Wis­senschafter namens Joseph Camp­bell, der die The­o­rie aufgestellt hat, dass es einen soge­nan­nten „Mon­o­mythos“ gibt, die Quin­tes­senz ein­er Geschichte. Und eigentlich sind alle Geschicht­en – die Bibel, die Odyssee, Grimms Märchen – Aus­prä­gun­gen dieses Mon­o­mythos. Da gibt es einen Helden und er hört einen Ruf zum Aben­teuer. Er wird her­aus­ge­fordert, und diese Her­aus­forderung kann sein, dass ein Weißer Hai Men­schen tötet. Die Her­aus­forderung kann sein, dass er ein schönes Mäd­chen trifft und sie erobern will. Er hört also den Ruf zum Aben­teuer und über­quert schließlich eine Schwelle und betritt eine neue Welt.

ES IST WICHTIG, DASS DIE MENSCHEN IHRE KOMFORTZONE VERLASSEN.

Eine neue Welt kann eine andere Glauben­srich­tung sein, kann eine Krankheit oder eine neue Liebe sein, sie kann eine andere Welt sein, sie kann die Welt der Haifis­chjäger sein. Und dort lernt der Held etwas, er hat eine Nah­toder­fahrung und mit diesem neuen Wis­sen kommt er zurück in seine nor­male Welt. Das ist gle­ich­sam die Geschichte, mit der wir uns alle iden­ti­fizieren können.

Wir sind ständig gefordert, eine neue Welt zu betreten, und müssen uns immer wieder entschei­den: Lohnt es sich, habe ich den Mut? Das ist meine Def­i­n­i­tion von Mut. Habe ich den Mut, diese Welt zu betreten, oder bleibe ich in mein­er schö­nen, begren­zten, gewohn­ten Welt, die nicht per­fekt ist, aber in der mir nichts passieren wird?

Ich habe eine Doku­men­ta­tion mit dem Titel „Das radikal Böse“ gedreht und es geht um die soge­nan­nten „Ein­satz­grup­pen“. Das war sozusagen der erste Teil des Holo­caust, sog­ar noch bevor es Ver­nich­tungslager gab. Da gab es deutsche Trup­pen, gewöhn­liche Män­ner, vor allem in Polen, in der Ukraine, in Weißrus­s­land, und sie zogen von Dorf zu Dorf und töteten alle Juden – Män­ner, Frauen, Babys, Kinder, alte Leute. Der Film han­delte von der Psy­cholo­gie dieser Män­ner, weil sie keine Super-Nazis waren, sie waren ganz gewöhn­liche Män­ner. Aber es war leicht, aus ihnen Massen­mörder zu machen. Und der beängsti­gend­ste Teil des ganzen Doku­men­tarfilms ist am Ende, als ich nach denen fragte, die sich weigerten, an den Mor­den teilzunehmen. Es gab sehr, sehr wenige, die sich weigerten. Und sie wur­den nicht hin­gerichtet, son­dern zum Latri­nen­di­enst eingeteilt. Die Entschei­dung war also, entwed­er loszuziehen und zu töten oder Toi­let­ten zu putzen. Und 99,9 % beschlossen, mit den anderen loszuziehen.

Mit dem Durch­schnitt zu gehen ist etwas, das tief in uns ver­ankert ist. Vor 10.000 Jahren, als der ganze Stamm nach links ging und jemand als Einzel­ner gesagt hat, aber mir würde es dort drüben bess­er gefall­en und er gehe da alleine nach rechts, hat­te er a) keine Nachkom­men und wurde b) von einem Löwen gefressen. So ster­ben alle Indi­vid­u­al­is­ten, während die Kon­formis­ten über­leben und Kinder bekom­men. Kon­formis­mus sitzt also tief in unser­er DNA. Wir sind soziale Tiere und deshalb sind wir notwendi­ger­weise Konformisten.

Mir gefällt immer noch meine Def­i­n­i­tion von Mut als Schwelle, die über­schrit­ten wer­den muss. Ich denke, für einen selb­st als Per­son ist es immer gut, Schwellen zu über­schre­it­en, seine Kom­fort­zone zu ver­lassen und etwas Neues auszuprobieren.

VITA

Der Oscar-Gewin­ner Ste­fan Ruzow­itzky gilt als ein­er der erfol­gre­ich­sten öster­re­ichis­chen Film­regis­seure und Drehbuchau­toren. Seit 2013 ist Ste­fan Ruzow­itzky zudem Co-Präsi­dent der Akademie des öster­re­ichis­chen Films.

Nach seinem Studi­um der The­ater- und Medi­en­wis­senschaften und Geschichte an der Uni­ver­sität Wien gestal­tete Ruzow­itzky ab 1987 diverse Fernseh­pro­duk­tio­nen, Doku­men­tarfilme, Com­e­dy-Pro­gramme, Werbespots und Musikvideos für Kün­stler wie Justin Tim­ber­lake, The Scor­pi­ons oder Ste­fan Raab.

Seine Pro­duk­tio­nen wur­den zahlre­ich prämiert. Gle­ich für seinen ersten Film „Tem­po” erhielt er den Max-Ophüls-Förder­preis, eine der wichtig­sten Ausze­ich­nun­gen für Nach­wuchs­filmer im deutschsprachi­gen Raum. Der Hor­ror­film „Anatomie“ ist bis heute der kom­merziell erfol­gre­ich­ste deutsche Gen­re­film. Das ein­dringliche KZ-Dra­ma „Die Fälsch­er“, das im Wet­tbe­werb der Berli­nale seine Urauf­führung feierte, gewann schließlich den Oscar als „bester fremd­sprachiger Film”. Auch in den fol­gen­den Jahren bedi­ente Ste­fan Ruzow­itzky ver­schieden­ste For­mate und bewies immer wieder seine unge­heure Viel­seit­igkeit und den Mut, Neues zu wagen.