Ich hatte immer das Gefühl, dass man als Österreicher und als Enkel von Großeltern, von denen manche Parteigänger und leidenschaftliche Nazis waren, irgendwann in seinem Leben als Geschichtenerzähler etwas zu diesem wichtigen Teil seiner Vergangenheit, der Vergangenheit seiner Familie, machen sollte.
Es gibt einen amerikanischen Wissenschafter namens Joseph Campbell, der die Theorie aufgestellt hat, dass es einen sogenannten „Monomythos“ gibt, die Quintessenz einer Geschichte. Und eigentlich sind alle Geschichten – die Bibel, die Odyssee, Grimms Märchen – Ausprägungen dieses Monomythos. Da gibt es einen Helden und er hört einen Ruf zum Abenteuer. Er wird herausgefordert, und diese Herausforderung kann sein, dass ein Weißer Hai Menschen tötet. Die Herausforderung kann sein, dass er ein schönes Mädchen trifft und sie erobern will. Er hört also den Ruf zum Abenteuer und überquert schließlich eine Schwelle und betritt eine neue Welt.
ES IST WICHTIG, DASS DIE MENSCHEN IHRE KOMFORTZONE VERLASSEN.
Eine neue Welt kann eine andere Glaubensrichtung sein, kann eine Krankheit oder eine neue Liebe sein, sie kann eine andere Welt sein, sie kann die Welt der Haifischjäger sein. Und dort lernt der Held etwas, er hat eine Nahtoderfahrung und mit diesem neuen Wissen kommt er zurück in seine normale Welt. Das ist gleichsam die Geschichte, mit der wir uns alle identifizieren können.
Wir sind ständig gefordert, eine neue Welt zu betreten, und müssen uns immer wieder entscheiden: Lohnt es sich, habe ich den Mut? Das ist meine Definition von Mut. Habe ich den Mut, diese Welt zu betreten, oder bleibe ich in meiner schönen, begrenzten, gewohnten Welt, die nicht perfekt ist, aber in der mir nichts passieren wird?
Ich habe eine Dokumentation mit dem Titel „Das radikal Böse“ gedreht und es geht um die sogenannten „Einsatzgruppen“. Das war sozusagen der erste Teil des Holocaust, sogar noch bevor es Vernichtungslager gab. Da gab es deutsche Truppen, gewöhnliche Männer, vor allem in Polen, in der Ukraine, in Weißrussland, und sie zogen von Dorf zu Dorf und töteten alle Juden – Männer, Frauen, Babys, Kinder, alte Leute. Der Film handelte von der Psychologie dieser Männer, weil sie keine Super-Nazis waren, sie waren ganz gewöhnliche Männer. Aber es war leicht, aus ihnen Massenmörder zu machen. Und der beängstigendste Teil des ganzen Dokumentarfilms ist am Ende, als ich nach denen fragte, die sich weigerten, an den Morden teilzunehmen. Es gab sehr, sehr wenige, die sich weigerten. Und sie wurden nicht hingerichtet, sondern zum Latrinendienst eingeteilt. Die Entscheidung war also, entweder loszuziehen und zu töten oder Toiletten zu putzen. Und 99,9 % beschlossen, mit den anderen loszuziehen.
Mit dem Durchschnitt zu gehen ist etwas, das tief in uns verankert ist. Vor 10.000 Jahren, als der ganze Stamm nach links ging und jemand als Einzelner gesagt hat, aber mir würde es dort drüben besser gefallen und er gehe da alleine nach rechts, hatte er a) keine Nachkommen und wurde b) von einem Löwen gefressen. So sterben alle Individualisten, während die Konformisten überleben und Kinder bekommen. Konformismus sitzt also tief in unserer DNA. Wir sind soziale Tiere und deshalb sind wir notwendigerweise Konformisten.
Mir gefällt immer noch meine Definition von Mut als Schwelle, die überschritten werden muss. Ich denke, für einen selbst als Person ist es immer gut, Schwellen zu überschreiten, seine Komfortzone zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren.
VITA
Der Oscar-Gewinner Stefan Ruzowitzky gilt als einer der erfolgreichsten österreichischen Filmregisseure und Drehbuchautoren. Seit 2013 ist Stefan Ruzowitzky zudem Co-Präsident der Akademie des österreichischen Films.
Nach seinem Studium der Theater- und Medienwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien gestaltete Ruzowitzky ab 1987 diverse Fernsehproduktionen, Dokumentarfilme, Comedy-Programme, Werbespots und Musikvideos für Künstler wie Justin Timberlake, The Scorpions oder Stefan Raab.
Seine Produktionen wurden zahlreich prämiert. Gleich für seinen ersten Film „Tempo” erhielt er den Max-Ophüls-Förderpreis, eine der wichtigsten Auszeichnungen für Nachwuchsfilmer im deutschsprachigen Raum. Der Horrorfilm „Anatomie“ ist bis heute der kommerziell erfolgreichste deutsche Genrefilm. Das eindringliche KZ-Drama „Die Fälscher“, das im Wettbewerb der Berlinale seine Uraufführung feierte, gewann schließlich den Oscar als „bester fremdsprachiger Film”. Auch in den folgenden Jahren bediente Stefan Ruzowitzky verschiedenste Formate und bewies immer wieder seine ungeheure Vielseitigkeit und den Mut, Neues zu wagen.