Meine Geschichte ist wirklich einfach. Ich stand vor einer Herausforderung: Ich war eine saudische Frau, die in Saudi-Arabien lebte. Ich war eine alleinerziehende Mutter, ich arbeitete als Ingenieurin und zahlte meine Miete, ich hatte einen Führerschein und ich hatte ein Auto. Aber ich konnte damit nur in der geschlossenen Wohnsiedlung fahren, wo ich früher gewohnt habe.
Eines Tages musste ich in die Klinik in der Stadt und ich konnte keinen Fahrer finden, der mich zurück nach Hause brachte, also ging ich zu Fuß die Straße entlang und wurde dabei beinahe entführt. Wir sprechen hier über eine Person, die Ingenieurin ist, die berufstätig ist. Es war sehr erniedrigend für mich, dass mir Autos nachfuhren und Leute mich beschimpften. Ein Fahrer kurbelte sogar das Fenster herunter. Das ist wie eine Einladung, mitzukommen. Ich wurde also extrem schlecht behandelt und ich heulte auf der Straße wie ein kleines Kind.
Am nächsten Tag sprach ich mit meinem Kollegen. Ich war so wütend und er sagte, dass es kein Gesetz gebe, das mich am Autofahren hindert. Ich sagte, was meinst du, Frauen können nicht fahren. Er sagte, nein, es gibt kein Gesetz, und schickte mir die Verkehrsregeln. Ich verbrachte an diesem Tag die ganze Nacht damit, sie Zeile für Zeile zu lesen. Er hatte Recht.
Frauen zahlen immer den höchsten Preis. Ich wurde dazu erzogen, eine gute Muslimin zu sein. Wir haben in den Schulen so viel gepredigt bekommen. Dein Körper muss völlig bedeckt sein, du musst nah an der Wand gehen, du darfst keine Hosen tragen, du kannst dir keine westliche Frisur machen, du darfst zu Nicht-Muslimen nicht „Frohe Weihnachten“ sagen.
DEINE WELT WIRD SO GROß WIE DEINE VORSTELLUNGSKRAFT.
Winston Churchill sagte einmal: Angst ist eine Reaktion, Mut ist eine Entscheidung. Also habe ich eine Entscheidung getroffen. Wer mein Land kennt, weiß, dass ich als Frau in Saudi-Arabien mein Gesicht bedecken muss, ich meine Stimme nicht benutzen darf, ich nicht mit Männern zusammensitzen und reden darf. Ich wäre immer hinter der Tür. Und sie würden mich über einen Bildschirm sehen. Gesichert. So sind wir als Frauen in meinem Land unsichtbar. Aber manchmal ruft einen sein Schicksal.
Ich glaube, wenn man diesem Ruf zuhört und sich danach verhält, das ist der Punkt, wo man eine Entscheidung trifft. Das ist wirklich wichtig. Was du für mutig hältst, ist für jemand anderen dumm. Wenn mich Leute fragen, wie ich den Mut dazu aufgebracht habe, antworte ich, dass ich nicht einmal daran gedacht habe, dass das mutig ist. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich etwas unternehmen musste.
Ich komme aus einer Gesellschaft, in der man seine Meinung nicht äußern kann und einen hohen Preis dafür bezahlt, wenn man dazu steht, wer man ist. Das Mutigste, was ich in meinem Leben getan habe, ist, diese Fesseln in mir selbst zu lösen, ganz ich selbst zu sein und zu lieben, wer ich bin. Dass ich anders bin als alle anderen. Ich denke, das war das Schwierigste. Es ist auch Mut, sich Situationen zu stellen, in denen man wirklich gefordert ist, und man versucht einfach, offen zu sein und zu beobachten. Es dauert eine Weile, bis man zurückkehrt und wirklich seine Meinung ändert. Es passiert nicht sofort. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unseren Kindern Zugang zu solchen Umgebungen bieten, in denen sie wirklich offen sein können, und wo sie sein können, wer sie sind, für sich selbst sprechen und es akzeptieren können, wenn andere Menschen völlig andere Sachen sagen als sie, weil wir alle individuell sind. Ich denke, das ist Mut, den Menschen zu erlauben zu sein, wer sie sind, und selbst zu sein, wer man ist. Das ist wirklich mutig.
VITA
Manal al-Sharif ist eine der bedeutendsten Stimmen der Frauenrechtsbewegung im Nahen Osten. Um gegen das vom Königshaus verhängte Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien zu protestieren, setzte sich die mehrfach ausgezeichnete Frauenrechtsaktivistin im Mai 2011 in der Stadt Khobar selbst ans Steuer, veröffentlichte davon ein Video des Protests auf YouTube und wurde dafür prompt verhaftet. Sie inspirierte damit eine Bewegung für Gleichberechtigung, die im saudischen Königshaus zu einem Umdenken und schließlich im Juni 2018 zur Aufhebung des Fahrverbots für Frauen in Saudi-Arabien geführt hat.
Die Mitbegründerin der Women2Drive-Bewegung sowie CEO und Gründerin der Women2Hack Academy gibt in ihren Vorträgen persönliche Einblicke in ihren Kampf gegen Unterdrückung und für mehr Gleichberechtigung, erzählt durch ihre Geschichten von furchtlosen Tabubrüchen. Manal al-Sharif möchte die Menschen inspirieren, mutig für ihre Überzeugungen einzustehen, und Veränderungen vorantreiben.
Sie wurde mit dem „Václav-Havel-Preis for Creative Dissent“ des Oslo Freedom Forums ausgezeichnet, das TIME-Magazin zählt sie zu den „100 einflussreichsten Menschen der Welt“ und der UN-Menschenrechtsrat lobte sie als „eine treibende Kraft für den Wandel“. Ihr Bestseller „Losfahren: Das Erwachen einer saudischen Frau“ belegte Platz eins der „Oprah Magazine 2017 Summer Reading List.“