Was das Gesundheitssystem jetzt vor allem braucht, ist mehr Flexibilität, Vielfalt, Freiheit und Verantwortung für Ärzte und Patienten, meint Walter Aichinger, Präsident des OÖ. Roten Kreuzes. Auch das Versicherungssystem sowie das Verhältnis zwischen Ärzten und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen müsste neu strukturiert werden.
Politischer Dauerbrenner Gesundheitssystem
Die Reform des Gesundheitssystems und seine Finanzierbarkeit sind ständig wiederkehrende Themen in der politischen Diskussion. An vielen Ecken und Enden wird in den letzten Jahren hektisch reformiert, während manche Strukturen aber gleichzeitig sakrosankt bleiben. Dabei erscheint die Übernahme international üblicher Regelungen als zunehmende Herausforderung für das Gesundheitssystem. Am sichtbarsten wurde die Überforderung der Gesetzgeber auf allen politischen Ebenen, als das neue Arbeitszeitgesetz für Ärzte in den Krankenhäusern eingeführt wurde.
Nur an kleinen Schrauben drehen hilft nicht mehr
Um das heimische System zu optimieren, werden in Österreich derzeit vor allem Elemente aus den Gesundheitssystemen anderer Länder eingeführt. Dabei wird nicht bedacht, dass diese Elemente nur deshalb an anderen Standorten erfolgreich sind, weil sie dort in teilweise gänzlich andere Rahmenbedingungen eingebettet sind. So führte die neue Arbeitszeitregelung für Krankenhausbedienstete zur Angst vor Ärztemangel, die Einführung der Ärzte GmbHs vor einigen Jahren war ein einziger Misserfolg und den Primary Health Care Centers droht ein ähnliches Schicksal.
Freiheit, Flexibilität und Verantwortung
Anstatt konservative Modelle im Gesundheitssystem mit aller Gewalt aufrecht zu erhalten, sollten wir versuchen, ein System der Vielfalt mit mehr Freiheiten für Ärzte wie Patientinnen und Patienten, aber auch mehr Verantwortung für alle, zu etablieren. Erst wenn es gelingt, verantwortungsbezogene und verantwortungsbewusste Segmente in die entsprechenden Strukturen unseres Gesundheitssystems einzubauen, kann es auch wieder nachhaltig stabilisiert werden.
Als Beispiel dafür, was hierbei alles möglich ist, kann das Beispiel der Schweiz herangezogen werden: hier kann bei der Versicherung etwa angegeben werden, dass man keinen Risikosport betreibt – wodurch geringere Beiträge zu zahlen sind. Es wird aber auch klar festgehalten, dass wenn man sich eine Verletzung bei der Ausübung einer derartigen Sportart zuzieht, die Versicherung nicht zahlen muss. Aus dieser und anderen Bedingungen resultiert ein ungeheures Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz für ihr eigenes Handeln.
Die Freiheit und der Freiraum, aus einer Vielfalt von Möglichkeiten wählen zu können, resultiert in einem höheren Verantwortungsbewusstsein der Menschen. Und genau von diesem Verantwortungsbewusstsein wird es in Zukunft mehr brauchen – nicht nur für das eigene Gesundheitsbewusstsein, sondern auch für das Gesundheitssystem.
Ein unflexibles System
In der Vergangenheit wurden die Freiräume der Ärzte aber empfindlich eingeengt. Denn den Versicherungen ist klar: es sind die Entscheidungen von Ärzten, die entweder ins Geld gehen oder eben nicht. Mittlerweile wird z.B. vorgegeben, welche Art einer Operation an einem Standort in welcher Anzahl wenigstens durchgeführt werden muss bzw. höchstens durchgeführt werden darf. Krankenhausärzte haben mittlerweile eine eingeschränkte Freiheit in der Auswahl von möglichen Therapien und können dadurch teilweise keine für die Patientin oder den Patienten gesundheitlich optimale Strategie verfolgen.
Der Grund für diese Regelungen liegt im Streben nach Kosteneinsparungen. Ein wichtiges Ziel, das aber mit verschiedenen Mitteln erreicht werden kann.
Kooperation erhöht die Effizienz
In anderen Ländern wurde zum Beispiel erfolgreich versucht, die Effizienz von Ärzten durch mehr Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen zu erhöhen. Viele einfache Routineaufgaben wurden vom Aufgabengebiet der Ärzte auf die Pflegekräfte überantwortet. Dadurch konnten sich die Ärzte auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentrieren: Diagnostik und Therapie.
Die Effizienz der Arbeitsstunde eines Arztes wurde auf diese Weise immer höher. So konnten – im Vergleich zu Österreich – in anderen Ländern weniger Ärzte die gleiche Leistung erbringen. Eine stärkere Kooperation zwischen Ärzten und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen trägt also zur Stabilisierung des Gesundheitssystems bei – ohne Qualitätsverluste. Dies hat man in Österreich zu spät erkannt.
Es kam zu dieser Entwicklung, weil in anderen Ländern meist weniger staatliches Geld im Gesundheitssystem vorhanden war und die Prozesse stärker über Angebot und Nachfrage sowie privates Geld gesteuert werden. In den dort entstanden Strukturen machte es Sinn, dass (teure) Ärzte und (billigere) Pflege zusammenarbeiten und gemeinsam effizienter wurden.
Anders verlief die Entwicklung in Österreich: Kammern und Gesetzgeber achteten stets darauf, die Mauern zwischen den Arbeitsbereichen der Gesundheitsberufe aufrecht zu erhalten. Als ärztlich definierte Tätigkeiten mussten durch Ärzte durchgeführt werden, waren sie auch noch so simpel. In den Spitälern wurde dieses System vor allem durch die reichlich vorhandene Arbeitskraft der Turnusärzte am Leben erhalten. Außerdem sprang, falls einmal das Geld fehlte, immer der Staat ein.
Ärztemangel! … oder doch nicht?
Gleichzeitig galt der Grundsatz: Ein Arzt kann nicht gleichzeitig im Krankenhaus arbeiten und eine eigene Praxis betreiben. Auch dieser Grundsatz wurde erst vor kurzem aufgegeben und seither sprießen die Wahlarztpraxen aus dem Boden.
Mittlerweile gibt es in Oberösterreich mehr Wahlärzte als Kassenärzte und es ist ein Segment im Gesundheitssystem entstanden, das abseits aller vertraglichen Kassen-Regelungen und gesundheitspolitischen Vorgaben funktioniert.
Der in diesem Zusammenhang oft beklagte Ärztemangel ist vor allem eines: ein strukturelles Problem. Denn insgesamt gäbe es genug Ärzte im Land. Der Gesetzgeber hat es aber bisher nicht geschafft, die neuen, selbstständig entstandenen Strukturen ins alte und konservative Versorgungsmodell der Ärzte zu integrieren. Das wird nun mit den Primary Health Care Centers versucht, aber auch hier wird man scheitern, wenn nicht akzeptiert wird, dass es auch in Zukunft freiberufliche Ärzte geben wird bzw. weiterhin am Bestehen überkommener Strukturen festhält.
Das Gesundheitssystem braucht also in Zukunft vor allem zwei Dinge: mehr Flexibilität und Freiräume. Daraus werden dann mehr Verantwortungsbewusstsein und nachhaltige Stabilität entstehen können.
Zur Person
Prim. Dr. Walter Aichinger ist Präsident des Roten Kreuzes Oberösterreich. Bevor er diese Position einnahm, war er bereits von 1996 bis 2011 Vizepräsident des Roten Kreuzes OÖ. Er ist Primarius des Institutes für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene am Klinikum Wels-Grieskirchen und bereits seit fast 40 Jahren als Arzt in Oberösterreich tätig. Von 1995 bis 2003 war er Mitglied der oberösterreichischen Landesregierung und ist derzeit Landtagsabgeordneter.
Er ist einer der Experten, die im Rahmen von Zukunft 5.0 ihre Ideen einbringen und die Zukunft mitgestalten.