Wie können etablierte „Hardware“-Unternehmen erfolgreich in ihrem Ökosystem innovieren, wenn sie von Softwareunternehmen herausgefordert werden?
Etablierte Industrien wie die Automobilindustrie werden zunehmend von digitalen Technologien durchdrungen. Dabei werden sie vor allem von Softwareunternehmen herausgefordert: Tesla setzt Maßstäbe in Sachen digitalisiertes Automobil und der Technologiekonzern Alphabet widmet sich mit Waymo ganz dem autonomen Fahren.
Automobilhersteller als „Blechlieferanten“?
Diese Entwicklung wirft die Fragen auf, wie etablierte Unternehmen in einer Industrie, die fast ein Jahrhundert lang auf die Produktion und Innovation von „Hardware“ ausgerichtet waren, digitale Technologien wahrnehmen und implementieren.
Auf den ersten Blick ist alles „auf Schiene“. Deutsche Automobilproduzenten, die einen zentraleren Bezugspunkt für österreichische Unternehmen bilden, investierten im Jahr 2018 mehr als 27 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung (F&E) [1] – ein Innovationsvolumen, das weltweit zu den höchsten F&E Ausgaben in einer Branche zählt. Und dennoch merken nicht wenige Journalisten und Analysten an, dass etablierte Automobilproduzenten künftig als Zulieferer von „Blech“ an Softwareunternehmen enden könnten. Herbert Diess, CEO von Volkswagen, hat dies kürzlich in einem Bloomberg Interview pointiert zum Ausdruck gebracht [2]: „There’s a decision we have to make: are we becoming the providers of a shell, a body which then is equipped with a computer from a third party that is running the cars, or are we able to convert this exciting, precious device into a real internet device?”
Tatsächlich wird etwa die Möglichkeit, sein Smartphone inklusive aller damit verbundenen Apps (Musik, Messanging, Navigation, etc.) einfach ins Auto zu integrieren, zunehmend zum Kriterium beim Kauf von Fahrzeugen. Valdes-Dapena, Journalist bei CNN, etwa schreibt: “Smartphones long ago replaced our cameras and our music players. Now they’re taking over our cars”.
Wie gehen Automobilersteller mit der von Softwareunternehmen getriebenen Digitalisierung eines Fahrzeugs um? Oder: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ – inwiefern trifft diese Aussage für Automobilersteller zu?
Innovationsprozesse von Automobilherstellern: Eine Innovationsökosystem-Perspektive am Beispiel Navigation
Wir sind in unserer laufenden Studie der Frage nachgegangen, ab wann ein Automobilhersteller Softwareunternehmen als Bedrohung wahrnimmt und in Folge dessen ob bzw. wie er seine Innovationsstrategie verändert.
Dabei sind wir von der Beobachtung ausgegangen, dass Unternehmen zunehmend in Ökosystemen innovieren [3]. Ökosysteme umfassen Firmen aus unterschiedlichen Branchen, die auf eine gemeinsame Wertschöpfung im Sinne einer kohärenten Lösung ausgerichtet sind [4]. Das Smartphone als kohärente Lösung besteht z.B. aus Apps, Betriebssystemen, Mobilfunknetzwerken und Endgeräten – hinter jeder dieser Produktkategorien stecken eine Vielzahl von Firmen, die nicht in einem Markt konkurrieren (z.B. konkurrieren App Entwickler nicht mit Netzwerksanbietern), aber sich dennoch aufeinander abstimmen müssen, um ein gut funktionierendes und vernetztes Smartphone zu schaffen.
Unsere Studie analysierte mittels Interviews und Sekundärdaten einen der innovativsten Automobilherstellers Europas hinsichtlich Innovationsprozessen in dessen Navigationsökosystem. Im Zentrum eines solchen Ökosystems steht ein in ein Auto eingebaute Navigationssystem, das mittels Touchscreens oder Sprache gesteuert wird. Das Wertversprechen in diesem Innovationsökosystem besteht darin, einen Fahrer schnell und unter Einbezug von Echtzeitverkehrsinformationen an sein Ziel zu navigieren.
Das typische Navigationsökosystem eines Automobilherstellers besteht aus unterschiedlichen Rollen: Er selbst steht im Zentrum des Ökosystems, indem er die technologische Struktur für Interoperabilität zwischen einer Vielzahl von Komponenten definiert. Ferner gibt es die Rolle des klassischen Zulieferers, der z.B. einen GPS-Receiver (GPS steht für Global Positioning System, ein Satellitensystem zur Positionsbestimmung über ein codiertes Radiosignal), ein Display oder andere Komponenten, die für Navigation wichtig sind, herstellt und dem Automobilproduzent anbietet bzw. verkauft (z.B. Siemens oder Bosch). Darüber hinaus braucht es Netzwerkanbieter: das Navigationssystem muss mit externen Infrastrukturen (z.B. Mobilfunknetzwerken) kommunizieren können. Schließlich gibt es Organisationen, die aktuelle Kartendaten und Echtzeitinformationen (z.B. Baustellen oder Staus) bereitstellen. Seit der vollständigen Freigabe des GPS-Signals durch die US-amerikanische Regierung wurden die Technologien dieses Ökosystems inkrementell innoviert (z.B. wurde das GPS-Signal über die Zeit immer akkurater, der Mobilfunk immer schneller und die Karten im Auto immer präziser).
Hans lernt! Innovationsökosysteme von etablieren Unternehmen im digitalen Zeitalter
Unserer Analysen zeigen, dass das analysierte Navigationsökosystem ab etwa 2015 zunehmend von plattformbasierten Ökosystemen von Apple und Google herausgefordert wurde: Einerseits wurde durch die Einführung der Apps Google Maps und etwas später Apple Maps vermehrt auf das Smartphone zurückgegriffen, um an den gewünschten Zielort zu kommen; ab 2014 wurden Apple CarPlay und etwas später Android Auto eingeführt, App-Lösungen, die das Smartphone direkt mit einem Auto verbinden, sodass man z.B. Google Maps durch die Steuerung der Elektronik im Auto bedienen kann. In Folge dessen rückten die OEM-eigenen Systeme zunehmend in den Hintergrund: Google Maps gibt es umsonst; für ein Navigationspacket eines Premium OEMs zahlt der Kunde bis zu 5000€.
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderer aus der Softwarewelt änderte sich die Strategie des Automobilherstellers, um in dessen Ökosystem zu innovieren. Vor 2015 wurde eine restriktivere Strategie verfolgt: es wurde weitgehend einseitig definiert, was in dem Innovationsökosystems passiert und welche Innovationsprojekte angestoßen werden sollen. Alle anderen Rollen im Ökosystem waren angehalten, sich danach auszurichten und ihre Komponenten entsprechend den Spezifikationen des Automobilherstellers zu innovieren. Mit 2015 begann ein Wandel in Richtung einer offeneren Strategie: Der Automobilhersteller öffnete sein Innovationsökosystem, indem er z.B. seine Schnittstellen für Apple und Alphabet freigab, vermehrt Kooperationen mit branchenentfernten Unternehmen einging und seinen Fokus auf die Entwicklung von innovativen Services im Bereich Navigation und Lokalisation legte. Als Konsequenzen dessen wurden Innovationen vielmehr dezentral angestoßen und es wurde vermehrt mit anderen Akteuren kooperiert. Weiter noch wurden ebenso die Entwicklung von branchenübergreifenden Standards und Normen vorangetrieben (z.B. unter Einbezug von Cloud-Lösungsanbietern oder Konnektivitätsanbietern).
Fazit
Hans lernt also. Was lässt sich darüber hinaus lernen? Es zeigt sich, dass Softwareunternehmen über komplementäre Angebote bestehende „Hardware“-Unternehmen aufrütteln und herausfordern. Innovative etablierte Unternehmen können darauf reagieren, indem sie ihre kollektiven Innovationsprozesse sowohl innerhalb ihres Ökosystem als auch gegenüber branchenfremden Unternehmen öffnen.
Quellen:
[1] Statista (2019): Automobilbau — Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland bis 2018. Verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/150648/umfrage/forschung-und-entwicklung-im-deutschen-automobilbau
[2] Bloomberg (2020): VW’s boss warns the troops: “We don’t want to end up like Nokia”. Verfügbar unter: https://www.bloomberg.com/amp/news/articles/2020–11-06/vw-s-boss-warns-the-troops-we-don-t-want-to-end-up-like-nokia
[3] Adner, R. (2017): Ecosystem as structure: An actionable construct for strategy. Journal of Management, 43(1), 39–58.
[4] Hannah, D. P. & Eisenhardt, K. M. (2018.): How firms navigate cooperation and competition in nascent ecosystems. Strategic Management Journal, 39(12), 3163–3192.
Infos zum Autor
Georg Reischauer forscht und lehrt an der Johannes Kepler Universität Linz und der Wirtschaftsuniversität Wien zu den Themen digitale Strategie, digitale Organisation und digitale Nachhaltigkeit. Er promovierte an der Technischen Universität Wien. Mehr Infos hier.