GRENZERFAHRUNGEN
Grenzerfahrungen prägen jede und jeden von uns – ganz persönlich oder als ganze Gesellschaften. Was Grenzen bedeuten und wie wir mit ihnen umgehen, ist von vielen Faktoren abhängig und oft entscheidend für weitere Entwicklungen. Als Menschen bewegen wir uns innerhalb gesetzter Grenzen – natürlich gegebener oder von Menschen geschaffener, selbst definierter oder aufoktroyierter. Dabei sind Grenzen trotzdem einer großen Dynamik unterworfen: Sie werden stets neu gezogen oder niedergerissen, respektiert oder überwunden.
„Wer bereitwillig und aufgeschlossen die eigene Komfortzone verlässt, wird fantastische neue Möglichkeiten entdecken.” – Alan Webber
Oft wird die Bedeutung einer Grenze erst erkannt, wenn man vor ihr steht. Nicht erkannte oder zu wenig respektierte Grenzen können zu einer Krise führen oder in einem Kollaps enden. Allzu voreilig akzeptierte Grenzen schüchtern hingegen ein und hemmen den Fortschritt. Die Fragen, wie mit Grenzen und Grenzerfahrungen umgegangen werden kann, wie man sie erkennen, bewerten und überwinden kann, was wir aus ihnen lernen können, ob negative Grenzerfahrungen überhaupt vermieden werden können, und nicht zuletzt, wie man aus Krisen wächst, waren Kern des SURPRISE FACTORS SYMPOSIUMS 2014.
Einig waren sich die internationalen Expertinnen und Experten in jedem Fall darin, dass es wichtig ist, Grenzen frühzeitig zu erkennen und richtig einzuschätzen, aus erlebten Krisen zu lernen, um gestärkt aus ihnen hervorzutreten, und den Mut sowie die Kraft aufzubringen, um zum richtigen Zeitpunkt vorhandene Grenzen überwinden zu können.
GRENZERFAHRUNGEN IM WANDEL DER ZEIT
Grenzerfahrungen und Krisen sind Bestandteil eines natürlichen Kreislaufs. Naturkatastrophen wie Stürme, Vulkanausbrüche oder Flutwellen begleiten die Menschheit seit jeher und werden uns immer widerfahren. Andere Krisensituationen hingegen prägen bestimmte Epochen unserer Geschichte. Heute sehen wir uns vorwiegend mit vom Menschen selbst geschaffenen Krisensituationen konfrontiert. Wirtschaftskrisen, Terroranschläge, Energieengpässe und der Klimawandel sind nur einige Beispiele für aktuelle Grenzerfahrungen, mit denen wir uns heute und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auseinandersetzen werden müssen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in Zukunft weitere Grenzen und Krisen, die wir heute noch nicht absehen oder einschätzen können, möglicherweise auch plötzlich und unerwartet auf uns zukommen und unsere Geschichte prägen werden.
WISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN GEWÄHREN EINBLICKE
Ein wesentlicher Aspekt der Krisenprävention ist die Auseinandersetzung mit Ereignissen, die in naher oder ferner Zukunft liegen. Die größte Herausforderung liegt darin, dass wir trotz technischer Errungenschaften und einem immer höheren Informationsstand nicht in der Lage sind, die Zukunft vorherzusehen. Dennoch können wir uns wissenschaftlicher Analysen bedienen, um mögliche Szenarien auszuarbeiten, um Krisen damit besser meistern oder im Idealfall sogar verhindern zu können.
Der US-amerikanische Systemtheoretiker John L. Casti hat es sich zur Aufgabe gemacht, vergangene X‑Events – extreme Ereignisse mit katastrophalen Auswirkungen – zu analysieren und anhand erarbeiteter Indikatoren die Eintrittswahrscheinlichkeit kommender X‑Events zu berechnen.
Aber auch aus der Fiktion können mögliche Zukunftsszenarien abgeleitet werden. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn untersucht beispielsweise, wie und warum wir uns mögliche Zukunftsvarianten vorstellen, welche Implikationen und Quellen dahinterstehen und was wir daraus für zukünftige Ereignisse ableiten können. Der unorthodoxe Ansatz, Katastrophenliteratur, Filme, Fernsehen und Computerspiele zu analysieren, bietet die Chance, übliche Denkmuster zu durchbrechen und damit das Unvorstellbare vorstellbar zu machen.
RESILIENZ ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE
Auch wenn es gelingt, Grenzerfahrungen und Krisen anhand wissenschaftlicher Analysen vorauszuahnen, ist das Eintreten solcher Ereignisse nur selten abwendbar. Um den Schaden im Falle einer Krise begrenzt zu halten, können bereits im Vorfeld nötige Schritte gesetzt werden, die das System widerstandsfähiger machen. Denn die Resilienz eines Systems, also die Toleranz gegenüber Störungen, kann letztlich entscheidend sein für den Zusammenbruch oder das Überleben des Systems. Resiliente Systeme zeichnen sich in erster Linie durch drei wesentliche Merkmale aus: Potential zur Assimilation von Schocks, ausreichende Flexibilität, um neue Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren, sowie Anpassungsfähigkeit, um unter den neu geschaffenen Rahmenbedingungen die richtigen Schritte zu setzen.
„Gemeinsame Werte, kleinteilige Strukturen und der Aufbau einer Infrastruktur des Vertrauens helfen dabei, ein X‑Event zu überleben.” – John L. Casti
Eine Möglichkeit, die Widerstandsfähigkeit eines Systems zu erhöhen, besteht darin, dieses kleinteilig zu halten. Denn dadurch verringert sich das Maß an Komplexität, während gleichzeitig die Fähigkeit zunimmt, auf Einwirkungen von außen flexibler reagieren zu können. Wichtig ist hierbei, dass Kleinteiligkeit im Zusammenhang mit Resilienz nicht als abgeschlossenes und abgekapseltes System zu verstehen ist, sondern vielmehr als anpassungsfähiger Bestandteil innerhalb eines größeren Kontexts. Für Oberösterreich bedeutet dies, den Fokus darauf zu legen, die kulturelle, wirtschaftliche und politische Selbstständigkeit auszubauen, dabei aber österreichische, europäische und globale Strukturen zu integrieren.
SCHADENSMINIMIERUNG DURCH KONTROLLIERT HERBEIGEFÜHRTE KRISEN
Ein flexibel gestaltetes, kleinteiliges System kann sich im Fall einer Krise besser an die neuen Rahmenbedingungen anpassen und somit bestehen bleiben, wenn auch in anderer Form. Um die Resilienz eines Systems zu testen oder das Ausmaß einer Krise möglichst gering zu halten, können Krisensituationen, die bereits im Vorhinein abzusehen sind, bewusst frühzeitig zur Eskalation gebracht werden.
Durch das Herbeiführen eines krisenähnlichen Ereignisses verändern sich die Parameter, darauf zu reagieren. Das Überraschungsmoment und die anfängliche Schockstarre als Reaktion auf den Ausbruch einer Krise entfallen. Somit können im Vorhinein geplante und aufeinander abgestimmte Maßnahmen zeitnah und koordiniert umgesetzt werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, ein ohnehin unabwendbares, krisenähnliches Ereignis kontrolliert ablaufen zu lassen und seine Auswirkungen dadurch möglichst gering zu halten.
DAS INDIVIDUUM ALS STÜTZE DES KOLLEKTIVS
Neben der Resilienz eines Systems sind auch die handelnden Individuen entscheidend für die Bewältigung einer Krise. Hierbei stehen zwei wesentliche Faktoren im Fokus: Zusammenhalt und der Mut, Entscheidungen zu treffen. Dabei kann man Beispiele aus der Fiktion heranziehen, um die wesentliche Bedeutung der kollaborativen Gemeinschaft zu analysieren: Bei so genannten „Survival Games“ – Onlinespiele, deren einziges Ziel das Überleben ist – kann verfolgt werden, wie sich einzelne Spieler zu Gruppen zusammenschließen, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Die Entscheidung dafür wird hier allerdings nicht aus ethischen Beweggründen getroffen, sondern allein aus Eigeninteresse. Ferner ist zu beobachten, dass in Krisensituationen demokratische Entscheidungsprozesse oft zu lange dauern.
„Fiktionen ermöglichen es, Strategien zur Bewältigung von Krisen zu entwickeln.” – Eva Horn
Einzelne Personen in der Gruppe, die entschlossen sind, Entscheidungen über weitere Handlungen zu treffen, und die bereit sind, die Verantwortung über die aus diesen Entscheidungen resultierenden Konsequenzen zu tragen, haben eine zentrale Position. Die große Bedeutung von Anführerinnen und Anführern in Krisenzeiten wurde auch von Karel Schwarzenberg unterstrichen, der kritisierte, dass es in der aktuellen Politik an „großen Persönlichkeiten“ mangelt. Dies sieht er darin begründet, dass die aktuellen Generationen in großer Sicherheit aufgewachsen sind und daher nicht lernen mussten, Krisensituationen zu meistern.
BILDUNG ALS ENTSCHEIDENDER WETTBEWERBSVORTEIL
Nachdem Krisensituationen nicht vermeidbar sind, ist es unabdingbar, auch jene Generationen, die in friedlichen und scheinbar krisensicheren Zeiten aufwachsen, zu befähigen, Anzeichen einer Krise zu erkennen, sie richtig zu deuten und sich das nötige Know-how anzueignen, geeignete Schlüsse für ihre Handlungsoptionen zu ziehen. Die Weichen hierfür müssen in der Ausbildung und Bildung gestellt werden.
Oberösterreich hat im Bildungsbereich eine solide Basis. Für die Zukunft wird es allerdings entscheidend sein, diese Basis weiter auszubauen und den Anschluss an die Besten nicht zu verlieren. Dies bedeutet zum einen, weiterhin in Bildung zu investieren – denn Investition in Bildung bedeutet auch Investition in die Widerstandsfähigkeit für die Zukunft. Zum anderen muss im Bildungsbereich stärker auf individuelle Fähigkeiten eingegangen werden. Denn gerade in Krisensituationen wird der bekannte Status quo verworfen und es sind kreative Lösungsansätze gefordert.
DIE GRENZEN DER EU
Das Kollektiv ist stärker als der Einzelne. Das gilt für Personen ebenso wie für Staaten. Diese Systemregel wurde bereits früh erkannt und hat nichts an Gültigkeit eingebüßt. Auch der Europäischen Union liegt der Leitgedanke zugrunde, Staaten zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, um die gemeinsame Wirtschaft und Kultur zu fördern. Dass dieser Staatenverbund mittlerweile 28 Mitgliedstaaten umfasst und heute der volkswirtschaftlich größte gemeinsame Markt ist, bestätigt den Erfolg des Modells.
„Europa muss wieder ‚wesentlich‘ in der Welt gemacht werden.” – Karel Schwarzenberg
Viele Themen werden jedoch nicht auf der europäischen, sondern auf der nationalen Ebene entschieden. Besonders für die Bereiche Außen‑, Sicherheits- und Energiepolitik sprach sich Karel Schwarzenberg für mehr Lösungen auf EU-Ebene aus. Er sieht hier die Herausforderung, die EU „wesentlich“ zu machen. Darüber hinaus sieht Schwarzenberg die Notwendigkeit, die EU wieder näher an die Menschen zu bringen. Die Beantwortung der Frage, wie die staatlichen Aufgaben zwischen europäischen, nationalen und regionalen Institutionen ideal aufgeteilt werden können, wird für die Zukunft der Europäischen Union zentral sein.
GRENZEN ÜBERWINDEN, UM NEUE WEGE ZU FINDEN
Grenzerfahrungen müssen uns nicht zwangsläufig unvorbereitet treffen oder krisenähnlich in Erscheinung treten. Grenzerfahrung wurde beim SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM auch als Fähigkeit diskutiert, die eigenen Grenzen in Frage zu stellen, diese zu überwinden und so über sich selbst hinauszuwachsen und Neuland zu betreten. Eindrucksvoll schilderte Extrembergsteiger Peter Habeler, wie ihm damals prophezeit wurde, dass eine Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff nicht möglich sei. Im Jahr 1978 bewies er schließlich das Gegenteil.
„Krisen sind Elemente der Erneuerung im Prozess des Fortschritts.” – Markus Hengstschläger
Grenzen zu überwinden ist oftmals, wie auch im hier genannten Beispiel, mit Risiken verbunden. Daher ist es umso entscheidender, die eigenen Grenzen genau zu kennen. Im richtigen Moment ein Vorhaben aufzugeben, weil es zu gefährlich ist, kann eine ebenso schwere Entscheidung darstellen wie jene, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Es ist gerade dieser Mut, neue Wege zu gehen, der Entwicklung und Fortschritt erst möglich macht. Innovation lebt von Vordenkern und Pionieren, die bereit waren und sind, Grenzen zu hinterfragen, sie bewusst zu übertreten und damit neu zu definieren.
DAS CHAOS ALS CHANCE ZUR NEUEN ORDNUNG
Es liegt in der Natur des Menschen, negative Grenzerfahrungen zu vermeiden. Trotz des Risikos eines Systemzusammenbruchs darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass jede Krise die Chance eines Neuanfangs in sich birgt. Jeder Zusammenbruch bietet die Möglichkeit, Neues zu erschaffen. Die „Tabula rasa“ und der „Phönix aus der Asche“ oder die Volksweisheit „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ – sie alle sind Sinnbild für die Kraft, an Grenzerfahrungen zu wachsen.
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