Die Medizin hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt. Beinahe täglich hört man von neuen Möglichkeiten, Krankheiten zu behandeln oder ihnen vorzubeugen. Doch auch die Herausforderungen bleiben angesichts einer älter und global mobiler werdenden Gesellschaft ungebrochen groß.
Vier Expertinnen und Experten haben im Gesundheits-Talk, einer Kooperation zwischen ACADEMIA SUPERIOR und der OÖ Rundschau, über die zu erwartenden Fortschritte und neue Behandlungsmöglichkeiten in ihren jeweiligen Fachgebieten berichtet.
Viren, Bakterien und Resistenzen
Prim. Univ.-Prof. Dr. Petra Apfalter ist Vizerektorin der JKU und Dekanin der medizinischen Fakultät. Sie leitet das Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Tropenmedizin des Ordensklinikum Linz bei den Elisabethen und ist Spezialistin in Sachen Hygiene und Infektionskrankheiten.
„Drei von vier Befragten in Österreich wissen nicht, dass Antibiotika nur bei bakteriellen Infektionen helfen, nicht aber bei Viruserkrankungen.”
Für Apfalter ist derzeit eine der größten Herausforderungen der Medizin, die Bevölkerung noch besser aufzuklären. Denn einerseits entstehen regelmäßig Hysterien wegen Viren wie Zika, Ebola oder SARS, und andererseits nimmt die Zahl der Impfverweigerer zu. „Wo man Vorsorge treffen kann, soll man das tun“, ist die Medizinerin überzeugt. Ansonsten empfiehlt sie, das Leben ganz normal weiterzuleben, denn öfter duschen oder andauerndes Händedesinfizieren zeigt außerhalb des klinischen Alltags keine Wirkung.
Im Vergleich zu anderen Ländern hat Österreich sehr hohe Hygienestandards. Doch gerade durch die übertriebene Einnahme von Antibiotika und die zunehmende weltweite Mobilität der Bevölkerung und Güter kommt es immer wieder zu Ausbildungen von neuen multiresistenten Keimen. Um gegen diese besser vorbeugen zu können, arbeitet Apfalter mit ihrem Linzer Team an einer „Landkarte für Erregerresistenzen“ in Österreich, publiziert den Resistenzbericht Österreich des Bundesministeriums für Gesundheit und berät die Politik bei gesundheitspolitischen Entscheidungen.
Es sind jedoch nicht nur neue Keime und Krankheiten, sondern auch alte, die neue Aktualität erlangen, wie etwa der jüngste Masernausbruch zeigt. Das liegt daran, dass die Menschen nachlässiger werden bei Impfungen oder sie verweigern und damit die Immunität der Gesamtbevölkerung gefährden.
Da die Zulassung von neuen Antibiotika, an denen laufend geforscht wird, mindestens zehn Jahre dauert, gibt es derzeit einen Trend, wieder bewusst zurückzugegriffen auf alte Substanzen, die heute Dank Fortschritten der Medizin besser dosiert und gezielter eingesetzt werden können.
Rehabilitation, Prähabilitation und Avatare
Auch im Fach der physikalischen Medizin und dem Bereich der Rehabilitation verbessern sich permanent die Angebote. Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn aufgrund von Erkrankungen oder Verletzungen funktionelle Störungen beim Menschen auftreten. Ziel der behandelnden Ärzte, welche die Therapie koordinieren, ist es, die größtmögliche Funktionalität und Aktivität der Patienten zu fördern.
Erst seit 2012 ist im Rehabilitationsplan der österreichischen Sozialversicherungsträger eine Reha nach Krebserkrankungen verankert. Unter der Leitung von Prim. Dr. Daniela Gattringer, MSc nimmt hier die Abteilung im Ordensklinikum Linz der Barmherzigen Schwestern eine österreichweite Vorreiterrolle ein. Denn dort wird seit 2015 die noch sehr wenig bekannte Möglichkeit einer ambulanten onkologischen Rehabilitation angeboten. „Gerade Tumorpatienten haben oft sehr lange Krankenhausaufenthalte hinter sich und möchten in der Rehabilitationszeit nicht schon wieder von zu Hause weg sein. Für sie ist die ambulante Rehabilitation die perfekte Möglichkeit, Gesundheit, Familie und Beruf zu verbinden,“ weiß Gattringer.
„Während bei einer neurologischen oder kardiologischen Rehabilitation mitunter mit langen Wartezeiten zu rechnen ist, gibt es bei der onkologischen Rehabilitation freie Ressourcen. Das muss noch besser bekannt gemacht werden. Auch unter Ärzten.”
Gerade der demografische Wandel macht die Rehabilitation zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Gesundheitslandschaft. Neue Anwendungen werden derzeit, etwa durch den erweiterten Einsatz von Stoßwellentherapien bei der Wundbehandlung oder bei Erektiler Dysfunktion, erprobt. Auch die Digitalisierung hält unter dem Stichwort Teletherapie Einzug: Mittels digitaler Therapiepläne können Patienten zu Hause individuell im Genesungsfortschritt betreut werden. Eigene Avatar-Programme führen durch die Therapie, überwachen die Heilung und melden Probleme an Spezialisten weiter. Derartige Methoden werden in Skandinavien bereits eingesetzt, können aber den Faktor Mensch nie ganz ersetzen: „Schon alleine das Reden über den Schmerz lindert ihn nachweislich“, betont Dr. Gattringer.
Der neueste Trend in der Rehabilitation ist die Prähabilitation, also die Vorbereitung auf Eingriffe oder sehr belastende Therapien, wie etwa große Operationen oder eine Chemotherapie. Durch die gezielte Vorbereitung wird der Genesungserfolg im Rahmen der Rehabilitation im Anschluss deutlich gefördert.
Time is Brain und der Chip im Hirn
Gerade die Neurochirurgie ist das beste Beispiel dafür, wie eng der medizinische Fortschritt mittlerweile mit dem technischen Fortschritt verzahnt ist. Sogar während einer Operation kann man heutzutage das Gehirn von Patienten mittels Magnetresonanz vermessen. Und es gibt eigene Sender im OP, sodass Chirurgen im engen Raum des Kopfes dank Sensoren millimetergenau navigieren können, wie mit einem GPS. Denn die Herausforderung während einer Operation sind die Veränderungen des Gehirns selbst – auch als „Brain Shift“ bezeichnet, erörtert der neu berufene Prim. Univ.-Prof. Dr. Andreas Gruber vom NeuroMed Campus des Kepler Universitätsklinikums. Dort steht er der größten Neurochirurgie Österreichs und einer der größten im deutschsprachigen Raum.
„In Zusammenarbeit mit Hagenberg betreiben wir weltweit führende Forschung im Bereich der Simulation: Ärzte können sich am Simulator auf Operationen vorbereiten, die einzelnen Schritte der Operation genau durchgehen und bekommen währenddessen haptisches Feedback.”
Sehr große Fortschritte konnte man in den letzten Jahren im Bereich der Schlaganfallbehandlung erzielen. Denn es geht um den Faktor Zeit: „Time ist Brain“. Können Patienten in einem Zeitfenster von maximal sechs Stunden therapiert werden, haben sie gute Chancen, nur relativ geringe bleibende Schäden davonzutragen – besonders dann, wenn mittels Kathether endoskopisch eingegriffen werden kann. Dabei sind die eigentlichen Ursachen für die den Schlaganfall auslösenden Blutpfropfen, noch relativ unbekannt. „Die zahlreichen interagierenden Faktoren werden in ihrer Komplexität derzeit noch nicht völlig durchschaut“, so Gruber.
Gerade das Gehirn in seiner Komplexität muss noch viel besser erforscht werden. Derzeit kann man bereits mit speziellen Hirnstamm-Implantaten bestimmte Nervenerkrankungen behandeln, die zur Taubheit führen. Oder es werden Sonden ins Gehirn eingesetzt, die fehlerhaft arbeitende Zellen mittels eines ausgesendeten Interferenzmusters „übertönen“ und so die Symptome von Parkinson mildern. Für völlig unbegründete Science-Fiction hält der Neurologe allerdings Spekulationen über Hirninterfaces die eine externe Kontrolle von Menschen erlauben.
Genome Editing und der Asbest-Faktor
Erstaunliches tut sich auch in der Genetik, wie Humangenetiker Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger eindringlich verdeutlicht. Unter „Next Generation Sequenzing“ versteht man das schnelle und präzise Analysieren des individuellen menschlichen Genoms, das völlig neue individuelle therapeutische Möglichkeiten eröffnet. Und mit dem Verfahren „CrisprCas9″ ist erstmals die Möglichkeit in greifbarer Nähe, Genschäden aktiv zu reparieren.
Gleichzeitig kommen dadurch jedoch enorme neue Herausforderungen in Bezug auf die Abschätzung der Folgen dieser neuen Technologie auf die Menschheit zu. Der Genetiker beschreibt dies als den „Asbest-Faktor“: Asbest wurde früher aufgrund seiner guten Eigenschaften im Gebäudebau eingesetzt. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass es – sozusagen als „Nebenwirkung“ – krebserregend ist. Daraufhin wurde der Einsatz wieder verboten.
Derartige „Nebenwirkungen” sind auch bei genetischen Veränderungen in der menschlichen Keimbahn derzeit noch nicht abzuschätzen. Und wenn man damit anfängt, kann man das – anders als beim Asbest – nicht einfach rückgängig machen. Veränderungen der Keimbahn wirken sich langfristig auf alle nachkommenden Generationen und somit auf die gesamten Menschheit aus. Dies wirft ethische Fragen ungeahnten Ausmaßes auf. Dennoch gibt es große Hoffnung, dass man durch Gentherapie – auch ohne Eingriffe in die Keimbahn – in Zukunft vielleicht eine Vielzahl an Krankheiten heilen kann.
Reges Interesse
350 Personen konnten bei der Veranstaltung begrüßt werden, darunter auch der ehemalige LH-Stv. Franz Hiesl, Dekan Univ.-Prof. Dr. Alois Ferscha (Technisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der JKU Linz) und Mag. Bettina Schneeberger (Geschäftsführerin des Campus Linz für Medizintechnik & Angewandte Sozialwissenschaften der FH OÖ).