Anna Kamenskaya war Expertin beim heurigen SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM zum Thema „Wo beginnt, wo endet Freiheit?” in Gmunden.
Anna Kamenskaya im Interview:
Ich finde, dass Freiheit ein sehr großes, emotionales und mächtiges Wort ist. Wenn ich mich an meine Kindheit in Moskau erinnere, war das kein Wort, das man jeden Tag hörte oder verwendete. Das Wort „Freiheit“ war in Wahrheit ein Tabuwort. Das russische Wort für „Freiheit“ ist „svoboda“. Es gab einen amerikanischen Radiosender über Freiheit, der in Russland ausstrahlte und der hieß „svoboda“. Die Leute haben ihn in der Nacht unter ihren Decken eingeschaltet. Als Kinder haben wir nicht viel darüber gewusst, aber wir wussten, dass es das gab. Ich glaube, das ist meine erste Erinnerung an Freiheit.
Meine Freiheit basiert definitiv auf der Redefreiheit.
In der Schule erlebte ich ein sehr prägendes Beispiel dafür, wie Meinungsfreiheit nicht nur ein politisches Statement, sondern auch eine sehr persönliche, praktische Fertigkeit sein kann. Ich bin in eine etwas überdurchschnittliche Schule mit einem fortschrittlichen Englisch-Lehrplan gegangen. Das war an sich schon sehr aufregend – die Sprache fremder Länder zu lernen, die ich aller Wahrscheinlichkeit nach selbst nie bereisen würde können.
Ab und zu kamen Besuchergruppen aus den Vereinigten Staaten oder aus Großbritannien. So faszinierend es für uns war, Menschen aus anderen Teilen der Welt zu treffen, so einschüchternd war diese Erfahrung auch. Die meisten ausländischen Besucher liebten es, uns Fragen zu stellen wie: „Warum lächelt ihr nie?“, „Warum sieht eure ganze Kleidung so gleich aus?“, „Warum schaut ihr immer auf den Boden?“ Diese Fragen waren der totale Begeisterungs-Killer für uns, weil wir nicht damit umgehen konnten. Aber da war ein neues Mädchen in der Klasse. Sie hatte ihre ersten Schuljahre in Kanada verbracht, weil ihr Vater Diplomat war. Als diese schwierigen Fragen kamen, senkten wir unsere Blicke und wurden still, doch sie sagte: „Aber eure U‑Bahn ist schmutzig!“ Das war’s! Dieser eine Satz veränderte alles für uns: Unsere Schultern wurden breit und wir schauten ihnen in die Augen. Wir hatten unsere berühmte U‑Bahn, auf die wir stolz sein konnten. Aber was wirklich zählte, war, dass eine von uns aufstand und ohne Angst antwortete. So habe ich gelernt, dass Redefreiheit jeden einzelnen ermächtigen kann mit Werten, die weit über das Gesagte hinausgehen.
Jetzt lebe ich in Hongkong und verdiene mein Geld damit, Begriffe für Marken zu kreieren. Aber als ich in Moskau aufwuchs, gab es keine Marken. Milch war Milch und Brot war Brot und die Geschäfte waren einfach danach benannt, was sie verkauften. Damals hat nie jemand über Geld gesprochen. Wozu auch? Jeder, der arbeitete, verdiente ungefähr gleich viel. Heute haben wir berühmt-berüchtigte Oligarchen und eine enorme Einkommensschere. Wir haben uns von einer Ära, wo es anrüchig war, über Geld zu sprechen, zu einer Gesellschaft entwickelt, wo es nur noch um Geld geht.
Als ich in der Sowjetunion aufwuchs, war die Vorstellung, ins Ausland zu fliegen, fast so, wie auf den Mond zu fliegen.
Wenn wir heute mehr Freiheit haben, kommt das von neuen Technologien. Technologie gibt einem die Freiheit, nicht nur selbstbewusster zu sein, sondern sich selbst auch besser ausdrücken zu können. Aber diese Freiheit ist nicht überall gleich. Ich arbeite viel in China und das veranlasst mich dazu, mich daran zu erinnern, dass Redefreiheit nicht selbstverständlich ist. Bevor ich in Hongkong in das Flugzeug einsteige, erledige ich meine Recherchen und klicke auf „Gefällt mir“ bei den Fotos meiner Freunde, weil ich weiß, dass ich keinen Zugang zu Facebook und Google mehr habe, wenn ich in China aussteige.
In diesem Gespräch über die Freiheit habe ich mich die ganze Zeit auf die Redefreiheit bezogen. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass Freiheit eigentlich bei der eigenen persönlichen Fähigkeit beginnt, frei zu sein, und wie man sich selbst und die Welt um sich herum wahrnimmt. Und insofern ist Freiheit das Gegenteil von Angst.
Zur Person:
Die russische Kosmopolitin verbrachte ihre Kindheit in Moskau, wo sie Russlands Aufbruch in die Freiheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 miterlebte. Kamenskaya studierte Englisch und Internationales Business Management & Marketing in Moskau, ehe sie im Jahr 2000 nach Hongkong zog.
Anna Kamenskaya begann ihre Karriere bei PepsiCo, wurde später Managing Director bei GGK MULLEN LOWE (ehemals LOWE GGK) und hatte danach leitende Funktionen in globalen Marketingagenturen wie DDB, Rapp, Proximity/BBDO und Wunderman inne. Im Jänner 2008 gründete sie ihre eigene Agentur für Unternehmens- und Marketingberatung namens UP TO IT.
2013 brachte sie für die Salim Group mit „KidZania“ ein Projekt in den thailändischen Markt, bei dem Kinder auf spielerische Art und Weise die (Berufs-)Welt der Erwachsenen kennenlernen.