Der 1937 geborenen Karel Schwarzenberg hat in seinem Leben viele politische Grenzen kommen und wieder verschwinden sehen. Familiär ist Schwarzenberg in ganz Mitteleuropa verwurzelt und dementsprechend „grenzenlos” eingestellt. 1989 erhielt Schwarzenberg den Menschenrechtspreis des Europarates für sein internationales Engagement für Menschenrechte. Von 1990 bis 1992 war er tschechischer Kanzler unter Václav Havel. 2007 bis 2009 und 2010 bis 2013 war er tschechischer Außenminister und ist bis heute einer der populärsten Politiker Tschechiens.
Vom 14. — 16. März war er in Gmunden als Experte beim SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM 2014 und sprach über die Zukunft Europas, über politische Grenzen und Parteien, darüber welche Krisen noch auf uns zukommen werden und was Europa tun muss, um nicht zu einer bedeutungslosen Halbinsel des asiatischen Kontinents zu werden. Lesen Sie unten die Zusammenfassung des Interviews mit Karel Schwarzenberg.
Zeitenwende — Periode des Friedens und des Wohlstands in Europa ist zu Ende
Der Aufschwung der letzten 25 Jahre in ganz Europa war beachtlich und er war begleitet von einer fast allgemeinen Friedenszeit. Doch diese Periode ist nun vorbei. Der offene Rechtsbruch, den Russland mit der Besetzung der Krim beging, wischte die Übereinkommen, die in Europa seit dem Jahr 1945 weitestgehend respektiert wurden, beiseite. In dem Moment, in dem ein Rechtsbruch akzeptiert wird, folgt der nächste auf dem Fuß. Russland hat vor wenigen Jahren bereits Abchasien und Südossetien besetzt — jetzt folgte die Krim und vielleicht auch bald die östliche Ukraine.
Historiker sagen, das kurze 20. Jahrhundert hat von 1914 bis 1989 gedauert. „Offensichtlich fängt das 21. Jahrhundert fröhlich wieder in einem Jahr ’14 an”, so Schwarzenberg. Die junge Generation erinnert sich nicht mehr, wie ein Krieg ist und deshalb ist bei vielen Politikern eine „Trigger Happiness” (hohe Bereitschaft den Abzug zu drücken) eingetreten. Dies muss man in Europa zur Kenntnis nehmen und auch adäquat darauf reagieren.
Europa und Österreich in einer Krise der alten politischen Parteien
Ein Krisensymptom in ganz Europa zeigt sich durch den Verfall der großen demokratischen Parteien. Auch hier geht eine Epoche zu Ende. Die ehemals dominierenden sozialdemokratischen und christlich-sozialen Parteien schrumpfen in allen Ländern und neue Erscheinungen beherrschen die politische Szene — entweder die alten Nationalisten oder breit-populistische Parteien. Warum? Weil die Politiker von heute die Ideen und Wurzeln ihrer Parteien vergessen haben. Sie sind alle irgendwie offen und liberal, aber austauschbar und ohne geistige Inhalte für die man sich begeistern könnte.
Die Begriffe „Rechts” und „Links” verlieren immer mehr an Bedeutung und die großen Ideologien der Vergangenheit gehören bald endgültig der Vergangenheit an. Gleichzeitig wird die Distanz zwischen „Brüssel” und den Bürgern immer größer. Darum verschwindet das Interesse der Bürger an der Politik und auch Politiker sehen ihre Arbeit nicht mehr als Dienst für ihr Land — weshalb Politik heute immer mehr zu reiner Interessenspolitik für die eigene Klientel entartet
Das politische System Europas, wie es seit über 150 Jahren besteht, geht seinem Ende zu und es besteht die Gefahr, dass angesichts des Fehlens von echten Führungspersönlichkeiten in Europa, wieder der Ruf nach einer starken Hand zunimmt. Denn, normale Politiker sind, zumindest was ihren Unterhaltungswert angeht, langweilig gegenüber den neuen Populisten.
Wird Europa zum Venedig des 21. Jahrhunderts?
Auch die Phase, in der Europa sich sicher sein könnte, dass es unter dem amerikanischen Schirm komfortabel leben könne, ist vorbei. Unter dem Schutz der USA konnte sich Europa auf die Ankurbelung seiner Wirtschaft konzentrieren und einen in der Weltgeschichte beispiellosen Wohlstand für die Mehrheit seiner Bewohner erreichen. Doch die amerikanischen Interessen richten sich immer mehr auf die Pazifikregion und Europa ist noch nicht dazu in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Es besitzt keine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Gefahren in und um Europa vermehren sich wieder. Warum sollten sich die USA länger im Nahen Osten engagieren — jetzt, wo sie energiepolitisch wieder so unabhängig geworden sind wie vor 100 Jahren?
Europa muss wieder „wesentlich” in der Welt gemacht werden — eine gemeinsame Verteidigungspolitik ist dazu nötig. Es braucht auch wieder einen „neuen” Typ von Politiker: weniger „Haushälter” die einfach nur den Status quo erhalten wollen, sondern Persönlichkeiten, die ihren Nationen auch vorangehen wollen.
Ebenso wichtig ist jedoch, dass Europa mehr Geld in seine Schulen und Universitäten investiert. Zu wenige europäische Universitäten gehören zu den Besten der Welt. Die Folgen zeigen sich bereits: Während Europa über 200 Jahre lang technische Patente in alle Welt exportierte, ist es nun bereits zum „Patente-Importeur” geworden. Das ist die grundlegende Gefahr für die Zukunft Europas, denn was sind wir ohne unser Wissen? Nur eine Halbinsel des eurasischen Kontinents, dem die Gefahr droht, das Schicksal Venedigs zu teilen. Auch Venedig hat mehrere Jahrhunderte lang den Mittelmeerraum beherrscht — heute ist es nur noch für Touristen interessant und nicht wegen seiner Politik und Wirtschaft. Aber derzeit geht Europa unaufhaltsam in die gleiche Richtung.
Zitate:
- „Das politische System Europas geht seinem natürlichen Ende zu.”
- „200 Jahre lang waren wir Patente-Exporteure, jetzt sind wir Patente-Importeure.”
- „Wir müssen Europa wesentlich in der Welt machen.”
- „Große Krisen produzieren Persönlichkeiten, die sie managen können.”
- „Der Zweck politischer Führungspersönlichkeiten? Sie zeigen ihrer Nation den Weg.”
- „Europa muss selbst etwas für seine Sicherheit tun.”
- „Wir müssen mehr in unsere Schulen und Universitäten investieren.”
Anknüpfungspunkte für ACADEMIA SUPERIOR
Punkte für weitere Diskussionen
- Hat Europa zukunftstaugliche Konzepte für seine Sicherheitspolitik?
- Wie können europäische Universitäten „besser” werden?
- Könnten Grenzen in Europa nur mehr eine administrative Funktion besitzen?
- Aggressive Expansionspolitik in Europa
— Welche Fehler beging die europäische Politik in den 1930er Jahren?
— Was bedeutet eine weitere Teilung der Ukraine? - Wie sieht die Partei der Zukunft aus?
Instrumente für die Weiterentwicklung
- Zukunftsszenario entwickeln: Was ändert sich wenn Europa eine gemeinsames Militär besitzt?
- Grundwerte einer europäischen Außenpolitik definieren.
- Katalog definieren: welche Bereiche können von den Regionen in Europa entschieden werden — wo braucht es gesamteuropäische (Rahmen-)Entscheidungen?