Zum 20. DIALOG der Academia Superior begrüßte Obfrau LH-Stv. Mag. Christine Haberlander gestern Abend Dr. Ursula Plassnik in Linz. In dem Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger sprach die Juristin, ehemaligen Außenministerin und Diplomatin über weltpolitische Umbrüche, Herausforderungen und Zukunftsthemen. Bis auf den letzten Platz gefüllten war das OÖNachrichten Forum für das Gespräch im bewährten Dialogformat.
„Wir erleben Umbrüche in vielen Bereichen“, führte Christine Haberlander eingangs in das Kernthema des Abends ein, „und wir haben den Anspruch, diese Zeitenwende eingehend zu diskutieren, um die Geschehnisse um uns und in der Welt besser zu verstehen“. Mit Ursula Plassnik konnte eine Insiderin gewonnen werden, die zur Bewertung und Einordnung dieser großen und komplexen Fragestellungen nicht nur wertvolle Einblicke, sondern eine klare Haltung mitbringt.
„Wir wissen, was wir daran haben, dass wir Europäer sein dürfen“
Die ehemalige Vorsitzende des EU-Rats der Außenminister sieht den europäischen Gedanken speziell in einem wirtschaftsstarken Land wie Oberösterreich fest verankert. Spätestens seit man sieht, welche Probleme ein gut situiertes Land wie Großbritannien nach dem Brexit hat, wissen viele auch hierzulande um die Vorteile und Bedeutung der EU. Das komplexe Konstrukt der Europäischen Union ist ein stetiger Lernprozess. 27 Demokratien schreiben die Regeln, nach denen sie leben wollen. Die überaus rasch verhängten und schlagkräftig Sanktionen gegen Russland zeigen, wie stark der europäische Einigungsgedanke schon ist. Hier kann auch ein kleines Land wie Österreich Großes beitragen, ist die überzeugte Europäerin sicher: „Die EU ist ein permanentes Ringen um die besten Lösungen. Wir sollten uns zutrauen, dabei überall auch an der Spitze zu sein“.
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„Eine gute Streitkultur lernt man in Frankreich“
Als Diplomatin in Frankreich und der Schweiz bringt Ursula Plassnik wesentliche interkulturelle Eindrücke mit. So kann man von den Franzosen etwa Debattier- und Streitkultur lernen. Die Schweiz, die in internationalen Innovations-Rankings stets die Nase vorne hat, habe neben den herausragenden Universitäten auch durch ihre Bereitschaft, sich frühzeitig mit Zukunftsfragen auseinanderzusetzen, einen Wettbewerbsvorteil: „Man muss sich als Region in die großen Themen der Zukunft hineinkatapultieren“, so Plassnik.
„Neutralität ist kein Zaubertrank, der unverwundbar macht“
Was die österreichische Sicherheitspolitik angeht, nimmt Plassnik auch die Medien in die Verantwortung, wo die Diskussion gerne auf „die zwei N“ reduziert wird: NATO oder Neutralität. Dabei gibt es auch dazwischen ein großes Spektrum. „Ein vernünftiger faktenbasierter sicherheitspolitischer Diskurs ist den Österreichern zumutbar“, ist Plassnik überzeugt, denn „wir können nicht erwarten, dass uns die anderen zum Null-Tarif schützen. Wir müssen uns fragen, was unser relevanter Beitrag zur zukünftigen europäischen Sicherheitspolitik sein wird“.
„Ein Inventar unserer Abhängigkeiten erstellen“
Dass die EU vor großen Herausforderungen steht, ist in Anbetracht der aktuellen Polykrise allen bewusst: Klima, Krieg, Pandemie, Inflation. Umso wichtiger ist es, dass Europäer auf eigenen Füßen stehen. Die Pandemie und der Angriff Russlands auf die Ukraine haben Europa zahlreiche Abhängigkeiten schmerzhaft aufgezeigt. Plassnik ist überzeugt, dass Europa gut daran täte, bei spezifischen Lieferketten und militärischen Abhängigkeiten mehr Souveränität und strategische Autonomie sicher zu stellen. Dabei sieht sie auch die europäische Rüstungsindustrie gefordert: „Es ist in unserem eigenen Interesse, auch in der Verteidigungstechnik selbständiger und europäischer zu werden. Da gibt es allerdings keine quick fixes“. Jahrzehntelange Bemühungen um eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit Russland sieht Ursula Plassnik zerstört: „Sicherheitspolitik in Europa wird jetzt gegen Russland und nicht mit Russland definiert werden“.
Was die weltpolitische Ordnung angeht, so hängt die Zukunft entscheidend davon ab, in welches Narrativ sich der globale Süden einordnen wird: „Unser europäisches Lebensmodell steht gerade international auf dem Prüfstand. Es basiert auf wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Sicherheit, Freiheit, Menschenrechten und Nachhaltigkeit.“ Russland und China sind etwa in Afrika sehr engagiert, als Investoren, Handelspartner, Kreditgeber und Waffenlieferanten. „In Afrika wird ein Teil der Zukunft entschieden“, fordert Plassnik ein stärkeres Engagement Europas.
„Diplomatie kommt bei Gewalt an ihre Grenzen“
Der Krieg in der Ukraine ist Ursula Plassniks größtes Überraschungsmoment im negativen Sinne, „weil er allem widerspricht, wofür ich in 42 Berufsjahren gearbeitet habe“. Der Überfall auf die Ukraine zeigt deutlich die Grenzen der Diplomatie auf: „Man kann einen Gewalttäter durch Beschwichtigung nicht von seinem Ziel abbringen“. Dabei zieht Plassnik einen anschaulichen Vergleich: „Wenn Sie jetzt jemand überfällt und Ihnen nach dem Leben trachtet, und ich als dritte Person dazukomme, würde ich auch nicht sagen: nimm einen Fuß oder ein Bein und dann lass gut sein“.
Mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, die ein europäisches Lebensmodell anstrebt, wurden sämtliche Vereinbarungen des Völkerrechts gebrochen. Deshalb warnt Plassnik vor naivem Wunschdenken und bringt die Perspektive für den weiteren Verlauf des Krieges auf den Punkt: „Der Krieg wird so lange gehen, wie Putin ihn führen will. Man braucht Verhandlungswillen auf beiden Seiten“.
„Man kann ein Land – eine Gesellschaft – nur aus der Mitte heraus führen“
Der Rechtsruck ist für die Juristin kein rein europäisches Thema, wenn man etwa an die Attacke auf das Capitol in Washington 2021 denkt. Sie sieht in vielen Ländern den Trend zur Polarisierung, weil die Mitte eingebrochen ist. Auch wenn das vielleicht verlockend erscheint, lässt sich ein Land nicht von den Rändern her steuern: „Wir brauchen ein Bekenntnis zur Mitte“, ist die Expertin überzeugt. Für Plassnik gehört die Demokratie zur kritischen Infrastruktur, für die wir uns besonders einsetzen müssen.
„Was fehlt, sind Respekt und Ernsthaftigkeit“
Auch Plassnik beobachtet, wie ein rauerer Ton in Österreich Einzug hält. Dass sich Menschen zunehmend in „Silos“ mit dicken, starken Wänden zurückziehen, verstärkt die Dynamik: Die Menschen können mit anderen Meinungen immer weniger umgehen und werden schnell ausfällig, brutal und persönlich. Ursula Plassnik identifiziert zwei Haltungen, wie man den Tendenzen zur Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirkt: Respekt und Ernsthaftigkeit.
Zur Frauenförderung findet Plassnik klare Worte: „Es ist unfassbar, wie Frauen in manchen Teilen der Welt behandelt werden. Und es ist dumm.“ Denn auf die Hälfte der Ideen, Talente, Energie und Erfahrungen zu verzichten, kann sich keine Gesellschaft auf Erden leisten.
„Man muss sich als Region in die großen Themen der Zukunft hineinkatapultieren“, greift Christine Haberlander zum Abschluss ein Statement von Ursula Plassnik auf und unterstreicht damit die Aufgabe und Zielsetzung der ACADEMIA SUPERIOR.