Ich bin seit 20 Jahren Fotografin und in den letzten 15 Jahren habe ich hauptsächlich über Konflikte berichtet – mit einem Fokus auf den Mittleren Osten. Obwohl ich über Kriege berichte, sehe ich mich selbst als Community-Fotografin. Ich konzentriere mich auf Menschen und das, was die Menschen weltweit miteinander verbindet. Je mehr Konflikte man in den verschiedensten Ländern sieht, desto mehr treten diese gemeinsamen Merkmale in den Vordergrund.
Menschen sind sehr widerstandsfähig. Wir glauben es zwar nicht, aber wir sind es.
Meine Aufgabe ist es, ins Chaos zu gehen und ihm Sinn zu geben. Ich reise zu einem chaotischen Ort und mache daraus ein rechteckiges Bild. Diese Fotografie wird zu einer Erinnerung, die sich für lange Zeit in das Gedächtnis der Menschen einprägt.
In Afghanistan verbrachte ich viel Zeit mit Menschen, die von der Gewalt in ihrem Land vertrieben wurden. Sie landeten in Camps. Zehntausende Flüchtlinge lebten am Stadtrand von Kabul. Sie brauchten Hilfe, aber die Regierung gewährte den Hilfsorganisationen keinen Zutritt zu diesen Camps. Die Winter in Kabul können sehr hart sein und einer dieser Winter war so schlimm, dass zahlreiche Kinder starben. Die afghanische Regierung sagte, dass das nicht stimmte – dass das nicht passierte. Sie ließ die Hilfsorganisationen noch immer nicht hinein. Ich lernte die Campleiter recht gut kennen. Eines Morgens kam einer von ihnen und erzählte mir, dass wieder ein Kind gestorben war. Ob ich bitte kommen könnte? Ich traf dort auf diese eigentümlich schöne Situation unermesslicher Traurigkeit. Die Frauen waren alle in einer Lehmhütte zusammengekommen, in der die Mutter des verstorbenen Kindes stand. Ihr totes Kind lag vor ihr.
Ich machte ein Foto und am nächsten Tag erschien es auf der Titelseite der New York Times. Es löste eine enorme Welle an Reaktionen aus. Das US-Militär, Hilfsorganisationen und selbst die afghanische Regierung brachten Lebensmittel, Mäntel und Öl für die Heizungen. Warum erzielte dieses Foto derartige Reaktionen? Es wurde ein paar Tage nach Weihnachten publiziert und das Bild erinnerte an die Szene der Geburt Jesu: die Frau in einem dunklen Raum, ihre Burka heruntergestreift, das Kind vor ihr liegend.
Das Ziel ist Empathie. Empathie aus dem Chaos.
Das zeigt, wie Fotografie eine Verbindung zwischen Kulturen und Religionen bewirken kann. Ein Foto kann eine Bindung erzeugen, durch die Menschen miteinander in Beziehung treten und füreinander Sorge tragen.
Ich habe oft das Gefühl, als müsste ich die Leute überlisten, damit sie der Welt ihre Aufmerksamkeit schenken. Es sieht so einfach aus, aber es ist schwierig, Menschen dazu zu bringen, achtsam zu sein. Das ist mein Ziel. Und es ist schwer genug.
Wenn man über das Konzept von „außer Kontrolle“ nachdenkt, muss man damit anfangen, was eigentlich „normal“ ist. Was ist „normal“ für jemanden, der in einer Kriegszone lebt? Die Beispiele, die ich im Irak sah, schienen im ersten Moment so, als wären sie außer Kontrolle. Aber selbst das hat eine seltsame Routine. Es gibt einen Bombenanschlag, ein Krankenhaus, eine Leichenhalle, es gibt ein Begräbnis. Es findet ein Bombenanschlag statt und Glas zersplittert. Am nächsten Morgen wachen die Menschen auf, kaufen neues Glas und richten ihre Geschäfte wieder her. Es wird fast normal. Das Chaos kann fast vorhersagbar sein.
Ich kann mir ein Foto-Projekt für Oberösterreich vorstellen, um die Kultur und das Leben der Menschen hier zu skizzieren, das Trennende zu durchbrechen und mehr Empathie zu erzeugen. Fotografie ist ein direkter Weg, um die Barrieren, die zwischen verschiedenen Menschen, verschiedenen politischen Ansichten und verschiedenen Religionen bestehen, zu überbrücken. Fotografie ist der klarste Weg, den ich gefunden habe, um Einfühlungsvermögen aus Wahnsinn oder Chaos zu schaffen.
VITA
Die preisgekrönte Dokumentarfotografin Andrea Bruce konzentriert sich in ihrer Arbeit auf Menschen, die in Kriegsgebieten leben. Sie begann damit 2003 und war mit Schwerpunkt auf Irak und Afghanisten bereits in den größten Krisenregionen dieser Welt tätig.
Sieben Jahre lang war Andrea Bruce als Fotografin für die Washington Post im Irak stationiert. In dieser Zeit schrieb sie ihre wöchentliche Kolumne „Ungesehenes Irak“, in der sie die öffentlich wenig bekannten Seiten des Lebens im Krieg aufzeigte. Neben The Washington Post sind auch National Geographic und The New York Times zwei ihrer wichtigsten Auftraggeber.
Andrea Bruce erhielt bereits zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den 2. Preis des World Press Foto 2014 für das Bild „Soldier’s Funeral“ und den ersten Chris Hondros Fund Award 2012 für „Engagement, Bereitschaft und Hingabe, die in ihrer Arbeit zum Vorschein kommen“. 2010 verlieh die White House News Photographers Association (WHNPA) Andrea Bruce ein Stipendium für ihre Arbeit in Inguschetien (Russland). Außerdem wurde sie mit dem renommierten John Faber Award des Overseas Press Club in New York ausgezeichnet und viermal von der WHNPA zur Fotografin des Jahres gekürt.
Derzeit arbeitet sie an einem Projekt, das zeigt, wie Demokratie in verschiedenen Communities in den USA gelebt und verstanden wird.