Andrea Bruce – Going into Chaos

Ich bin seit 20 Jahren Fotografin und in den let­zten 15 Jahren habe ich haupt­säch­lich über Kon­flik­te berichtet – mit einem Fokus auf den Mit­tleren Osten. Obwohl ich über Kriege berichte, sehe ich mich selb­st als Com­mu­ni­ty-Fotografin. Ich konzen­triere mich auf Men­schen und das, was die Men­schen weltweit miteinan­der verbindet. Je mehr Kon­flik­te man in den ver­schieden­sten Län­dern sieht, desto mehr treten diese gemein­samen Merk­male in den Vordergrund.

Men­schen sind sehr wider­stands­fähig. Wir glauben es zwar nicht, aber wir sind es.

Meine Auf­gabe ist es, ins Chaos zu gehen und ihm Sinn zu geben. Ich reise zu einem chao­tis­chen Ort und mache daraus ein rechteck­iges Bild. Diese Fotografie wird zu ein­er Erin­nerung, die sich für lange Zeit in das Gedächt­nis der Men­schen einprägt.

In Afghanistan ver­brachte ich viel Zeit mit Men­schen, die von der Gewalt in ihrem Land ver­trieben wur­den. Sie lan­de­ten in Camps. Zehn­tausende Flüchtlinge lebten am Stad­trand von Kab­ul. Sie braucht­en Hil­fe, aber die Regierung gewährte den Hil­f­sor­gan­i­sa­tio­nen keinen Zutritt zu diesen Camps. Die Win­ter in Kab­ul kön­nen sehr hart sein und ein­er dieser Win­ter war so schlimm, dass zahlre­iche Kinder star­ben. Die afghanis­che Regierung sagte, dass das nicht stimmte – dass das nicht passierte. Sie ließ die Hil­f­sor­gan­i­sa­tio­nen noch immer nicht hinein. Ich lernte die Cam­pleit­er recht gut ken­nen. Eines Mor­gens kam ein­er von ihnen und erzählte mir, dass wieder ein Kind gestor­ben war. Ob ich bitte kom­men kön­nte? Ich traf dort auf diese eigen­tüm­lich schöne Sit­u­a­tion uner­messlich­er Trau­rigkeit. Die Frauen waren alle in ein­er Lehmhütte zusam­mengekom­men, in der die Mut­ter des ver­stor­be­nen Kindes stand. Ihr totes Kind lag vor ihr.

Ich machte ein Foto und am näch­sten Tag erschien es auf der Titel­seite der New York Times. Es löste eine enorme Welle an Reak­tio­nen aus. Das US-Mil­itär, Hil­f­sor­gan­i­sa­tio­nen und selb­st die afghanis­che Regierung bracht­en Lebens­mit­tel, Män­tel und Öl für die Heizun­gen. Warum erzielte dieses Foto der­ar­tige Reak­tio­nen? Es wurde ein paar Tage nach Wei­h­nacht­en pub­liziert und das Bild erin­nerte an die Szene der Geburt Jesu: die Frau in einem dun­klen Raum, ihre Bur­ka herun­tergestreift, das Kind vor ihr liegend.

Das Ziel ist Empathie. Empathie aus dem Chaos.

Das zeigt, wie Fotografie eine Verbindung zwis­chen Kul­turen und Reli­gio­nen bewirken kann. Ein Foto kann eine Bindung erzeu­gen, durch die Men­schen miteinan­der in Beziehung treten und füreinan­der Sorge tragen.

Ich habe oft das Gefühl, als müsste ich die Leute überlis­ten, damit sie der Welt ihre Aufmerk­samkeit schenken. Es sieht so ein­fach aus, aber es ist schwierig, Men­schen dazu zu brin­gen, acht­sam zu sein. Das ist mein Ziel. Und es ist schw­er genug.

Wenn man über das Konzept von „außer Kon­trolle“ nach­denkt, muss man damit anfan­gen, was eigentlich „nor­mal“ ist. Was ist „nor­mal“ für jeman­den, der in ein­er Kriegszone lebt? Die Beispiele, die ich im Irak sah, schienen im ersten Moment so, als wären sie außer Kon­trolle. Aber selb­st das hat eine selt­same Rou­tine. Es gibt einen Bombe­nan­schlag, ein Kranken­haus, eine Leichen­halle, es gibt ein Begräb­nis. Es find­et ein Bombe­nan­schlag statt und Glas zer­split­tert. Am näch­sten Mor­gen wachen die Men­schen auf, kaufen neues Glas und richt­en ihre Geschäfte wieder her. Es wird fast nor­mal. Das Chaos kann fast vorher­sag­bar sein.

Ich kann mir ein Foto-Pro­jekt für Oberöster­re­ich vorstellen, um die Kul­tur und das Leben der Men­schen hier zu skizzieren, das Tren­nende zu durch­brechen und mehr Empathie zu erzeu­gen. Fotografie ist ein direk­ter Weg, um die Bar­ri­eren, die zwis­chen ver­schiede­nen Men­schen, ver­schiede­nen poli­tis­chen Ansicht­en und ver­schiede­nen Reli­gio­nen beste­hen, zu über­brück­en. Fotografie ist der klarste Weg, den ich gefun­den habe, um Ein­füh­lungsver­mö­gen aus Wahnsinn oder Chaos zu schaffen.

VITA

Die preis­gekrönte Doku­men­tar­fo­tografin Andrea Bruce konzen­tri­ert sich in ihrer Arbeit auf Men­schen, die in Kriegs­ge­bi­eten leben. Sie begann damit 2003 und war mit Schw­er­punkt auf Irak und Afghanis­ten bere­its in den größten Krisen­re­gio­nen dieser Welt tätig.

Sieben Jahre lang war Andrea Bruce als Fotografin für die Wash­ing­ton Post im Irak sta­tion­iert. In dieser Zeit schrieb sie ihre wöchentliche Kolumne „Unge­se­henes Irak“, in der sie die öffentlich wenig bekan­nten Seit­en des Lebens im Krieg aufzeigte. Neben The Wash­ing­ton Post sind auch Nation­al Geo­graph­ic und The New York Times zwei ihrer wichtig­sten Auftraggeber.

Andrea Bruce erhielt bere­its zahlre­iche Preise und Ausze­ich­nun­gen, darunter den 2. Preis des World Press Foto 2014 für das Bild „Soldier’s Funer­al“ und den ersten Chris Hon­dros Fund Award 2012 für „Engage­ment, Bere­itschaft und Hingabe, die in ihrer Arbeit zum Vorschein kom­men“. 2010 ver­lieh die White House News Pho­tog­ra­phers Asso­ci­a­tion (WHNPA) Andrea Bruce ein Stipendi­um für ihre Arbeit in Inguschetien (Rus­s­land). Außer­dem wurde sie mit dem renom­mierten John Faber Award des Over­seas Press Club in New York aus­geze­ich­net und vier­mal von der WHNPA zur Fotografin des Jahres gekürt.

Derzeit arbeit­et sie an einem Pro­jekt, das zeigt, wie Demokratie in ver­schiede­nen Com­mu­ni­ties in den USA gelebt und ver­standen wird.