Ich wurde in Syrien als Flüchtling geboren, und dann musste ich wieder fliehen – ein doppelter Flüchtling. Ich bin in Yarmouk als Palästinenser in Syrien aufgewachsen. Mein Vater, ein blinder Musiker, hat mich dazu gebracht, Klavier zu spielen, und ich habe sein Geschäft übernommen. Es war ein seltsames Aufwachsen, in einem Flüchtlingslager, das eigentlich eine Stadt ist, als Fremder in einem fremden Land, zwischen arabischer und westlicher klassischer Musik.
Ich studierte und heiratete und baute eine Zukunft für uns auf. Aber als der Krieg ausbrach, töteten Hungersnot und Bomben jeden Tag Menschen. Die Belagerung verhinderte, dass uns Nahrung und Wasser erreichten. Die Menschen waren verzweifelt und kämpften um eine einzige Tasse Milch. Mein kleiner Sohn verlor die Hälfte seines Körpergewichts.
Ich musste mich darum kümmern, dass wir etwas zu essen hatten, und ich fand ein paar Säcke mit Vogelfutter und fing an, davon auf der Straße Falafel zu braten und zu verkaufen – ein Pianist, der Mozart und Beethoven spielte, Tschaikowsky und Rachmaninow. Plötzlich wird das zunichte gemacht und ich sitze auf der Straße und brate Falafel. Das war der Punkt, wo ich beschloss, mein Klavier zu packen und auf die Straße zu bringen, in die Trümmer. Ich musste einfach für meine Gemeinschaft spielen. Ein Musiker braucht ein Publikum, sonst stirbt er. Also spielte ich und die Kinder um mich herum bildeten einen Chor. Zuerst waren die Leute neugierig, aber nach einer Weile hatten sie genug von meiner Musik. Sie half nicht. Wir sangen „Wir brauchen Wasser, wir brauchen Wasser“, aber wir hatten immer noch kein Wasser.
ICH SPIELE KLAVIER, UM EINE GEMEINSCHAFT AUFZUBAUEN.
War es mutig, was ich getan habe? Ich dachte es nicht. Ich musste es einfach tun. Draußen auf der Straße kannst du umgebracht werden, aber sonst stirbst du eben an Hunger, du stirbst nach und nach. Und ich wusste, dass ich mit meinem Klavierspiel auch andere Menschen in Gefahr brachte. Ich riskierte, dass meine Frau ihren Ehemann verlor, mein Söhne ihren Vater. Einmal spielte ich und ein kleines Mädchen stand da und hörte mir zu. Ein Scharfschütze tötete sie vor meinen Augen. Ich werde diesen Moment niemals vergessen können.
Als die Leute im Westen von dem Pianisten aus den Trümmern hörten, feierten sie meinen Mut, aber das war nur ihr romantischer, westlicher Geist. Ich bin keine starke Person, und ich habe nicht gespielt, um den Menschen Hoffnung zu geben. Ich spielte, um selbst am Leben zu bleiben.
Was die Leute aus meinem Klavierspiel aus den Trümmern gemacht haben, war sehr ambivalent für uns. Ein Pressefotograf machte ein Foto von mir und es wurde auf der ganzen Welt veröffentlicht, der Pianist im grünen T‑Shirt, der den Menschen Hoffnung gibt. Aber die Konsequenzen für uns waren ihm egal. Nach diesem Foto wurden wir noch mehr von Scharfschützen und Bomben ins Visier genommen. Mehr Menschen starben. Er hat dieses Bild nicht aufgenommen, um uns zu helfen.
Wenn du mich fragst, was Mut ist und ob er gelernt werden kann, kann ich nur als Musiker antworten. In der Musik muss man Mut haben, seinen Instinkten vertrauen, im Moment handeln, improvisieren. Improvisation bedeutet jedoch nicht, dass man sich willkürlich oder ohne Plan verhält. Improvisation ist 20 % Freiheit und 80 % Technik und Erfahrung. Nur wenn man diese Erfahrung hat, kann man in jedem Moment improvisieren. Man kann nur mutig sein, wenn man eine innere Struktur hat, der man vertrauen kann, wenn man geübt hat und Erfahrung hat, wie man sich verhält. Das ist das Geheimnis des Musizierens, aber es ist auch das Geheimnis, in einer bestimmten Situation agieren zu können: Etwas in sich zu haben, auf das man sich verlassen kann.
VITA
Der palästinensisch-syrische Flüchtling und Pianist spielte während des Bürgerkriegs in Syrien trotz der lebensbedrohlichen Situation unter dem IS-Regime Klavier im umkämpften Palästinenserlager Yarmouk bei Damaskus. Als „Pianist aus den Trümmern“ protestierte er gegen die Gewalt, Zerstörung und den Hunger und gab den Menschen mit seiner Musik ein Gemeinschaftsgefühl und Hoffnung.
Nachdem IS-Dschihadisten im Frühling 2015 aufgrund eines verhängten Verbots von Musik vor seinen Augen sein Klavier anzündeten, war Aeham Ahmad in großer Lebensgefahr und musste seine Familie zurücklassen und fliehen. Er schlug sich über Land zur türkischen Küste durch, von dort mit einem Schlauchboot auf eine kleine griechische Insel und weiter über die Balkanroute, durch Serbien, Kroatien, Österreich, bis er schließlich im September 2015 in Deutschland ankam.
Seinen ersten Auftritt hatte Aeham Ahmad bereits im Oktober 2015 bei einem Konzert für Flüchtlinge und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer in München. Seither folgten mehr als 200 Konzerte zugunsten der Flüchtlingshilfe und andere Benefizkonzerte. Eine klassische Karriere als Konzertpianist bleibt ihm jedoch verwehrt, da ein Granatsplitter während des Krieges seine rechte Hand verletzte. Im Dezember 2015 wurde Aeham Ahmad der Internationale Beethovenpreis für Menschenrechte verliehen.