Aeham Ahmad: Triff deine eigenen Entscheidungen!

Das Interview zusammengefasst von Philipp Blom

Ich wurde in Syrien als Flüchtling geboren, und dann musste ich wieder fliehen – ein dop­pel­ter Flüchtling. Ich bin in Yarmouk als Palästi­nenser in Syrien aufgewach­sen. Mein Vater, ein blind­er Musik­er, hat mich dazu gebracht, Klavier zu spie­len, und ich habe sein Geschäft über­nom­men. Es war ein selt­sames Aufwach­sen, in einem Flüchtlingslager, das eigentlich eine Stadt ist, als Fremder in einem frem­den Land, zwis­chen ara­bis­ch­er und west­lich­er klas­sis­ch­er Musik.

Ich studierte und heiratete und baute eine Zukun­ft für uns auf. Aber als der Krieg aus­brach, töteten Hunger­snot und Bomben jeden Tag Men­schen. Die Belagerung ver­hin­derte, dass uns Nahrung und Wass­er erre­icht­en. Die Men­schen waren verzweifelt und kämpften um eine einzige Tasse Milch. Mein klein­er Sohn ver­lor die Hälfte seines Körpergewichts.

Ich musste mich darum küm­mern, dass wir etwas zu essen hat­ten, und ich fand ein paar Säcke mit Vogel­fut­ter und fing an, davon auf der Straße Falafel zu brat­en und zu verkaufen – ein Pianist, der Mozart und Beethoven spielte, Tschaikowsky und Rach­mani­now. Plöt­zlich wird das zunichte gemacht und ich sitze auf der Straße und brate Falafel. Das war der Punkt, wo ich beschloss, mein Klavier zu pack­en und auf die Straße zu brin­gen, in die Trüm­mer. Ich musste ein­fach für meine Gemein­schaft spie­len. Ein Musik­er braucht ein Pub­likum, son­st stirbt er. Also spielte ich und die Kinder um mich herum bilde­ten einen Chor. Zuerst waren die Leute neugierig, aber nach ein­er Weile hat­ten sie genug von mein­er Musik. Sie half nicht. Wir san­gen „Wir brauchen Wass­er, wir brauchen Wass­er“, aber wir hat­ten immer noch kein Wasser.

ICH SPIELE KLAVIER, UM EINE GEMEINSCHAFT AUFZUBAUEN.

War es mutig, was ich getan habe? Ich dachte es nicht. Ich musste es ein­fach tun. Draußen auf der Straße kannst du umge­bracht wer­den, aber son­st stirb­st du eben an Hunger, du stirb­st nach und nach. Und ich wusste, dass ich mit meinem Klavier­spiel auch andere Men­schen in Gefahr brachte. Ich riskierte, dass meine Frau ihren Ehe­mann ver­lor, mein Söhne ihren Vater. Ein­mal spielte ich und ein kleines Mäd­chen stand da und hörte mir zu. Ein Scharf­schütze tötete sie vor meinen Augen. Ich werde diesen Moment niemals vergessen können.

Als die Leute im West­en von dem Pianis­ten aus den Trüm­mern hörten, feierten sie meinen Mut, aber das war nur ihr roman­tis­ch­er, west­lich­er Geist. Ich bin keine starke Per­son, und ich habe nicht gespielt, um den Men­schen Hoff­nung zu geben. Ich spielte, um selb­st am Leben zu bleiben.

Was die Leute aus meinem Klavier­spiel aus den Trüm­mern gemacht haben, war sehr ambiva­lent für uns. Ein Presse­fo­tograf machte ein Foto von mir und es wurde auf der ganzen Welt veröf­fentlicht, der Pianist im grü­nen T‑Shirt, der den Men­schen Hoff­nung gibt. Aber die Kon­se­quen­zen für uns waren ihm egal. Nach diesem Foto wur­den wir noch mehr von Scharf­schützen und Bomben ins Visi­er genom­men. Mehr Men­schen star­ben. Er hat dieses Bild nicht aufgenom­men, um uns zu helfen.

Wenn du mich fragst, was Mut ist und ob er gel­ernt wer­den kann, kann ich nur als Musik­er antworten. In der Musik muss man Mut haben, seinen Instink­ten ver­trauen, im Moment han­deln, impro­visieren. Impro­vi­sa­tion bedeutet jedoch nicht, dass man sich willkür­lich oder ohne Plan ver­hält. Impro­vi­sa­tion ist 20 % Frei­heit und 80 % Tech­nik und Erfahrung. Nur wenn man diese Erfahrung hat, kann man in jedem Moment impro­visieren. Man kann nur mutig sein, wenn man eine innere Struk­tur hat, der man ver­trauen kann, wenn man geübt hat und Erfahrung hat, wie man sich ver­hält. Das ist das Geheim­nis des Musizierens, aber es ist auch das Geheim­nis, in ein­er bes­timmten Sit­u­a­tion agieren zu kön­nen: Etwas in sich zu haben, auf das man sich ver­lassen kann.

VITA

Der palästi­nen­sisch-syrische Flüchtling und Pianist spielte während des Bürg­erkriegs in Syrien trotz der lebens­bedrohlichen Sit­u­a­tion unter dem IS-Regime Klavier im umkämpften Palästi­nenser­lager Yarmouk bei Damaskus. Als „Pianist aus den Trüm­mern“ protestierte er gegen die Gewalt, Zer­störung und den Hunger und gab den Men­schen mit sein­er Musik ein Gemein­schafts­ge­fühl und Hoffnung.

Nach­dem IS-Dschi­hadis­ten im Früh­ling 2015 auf­grund eines ver­hängten Ver­bots von Musik vor seinen Augen sein Klavier anzün­de­ten, war Aeham Ahmad in großer Lebens­ge­fahr und musste seine Fam­i­lie zurück­lassen und fliehen. Er schlug sich über Land zur türkischen Küste durch, von dort mit einem Schlauch­boot auf eine kleine griechis­che Insel und weit­er über die Balka­n­route, durch Ser­bi­en, Kroa­t­ien, Öster­re­ich, bis er schließlich im Sep­tem­ber 2015 in Deutsch­land ankam.

Seinen ersten Auftritt hat­te Aeham Ahmad bere­its im Okto­ber 2015 bei einem Konz­ert für Flüchtlinge und ehre­namtliche Helferin­nen und Helfer in München. Sei­ther fol­gten mehr als 200 Konz­erte zugun­sten der Flüchtling­shil­fe und andere Bene­fizkonz­erte. Eine klas­sis­che Kar­riere als Konz­ert­pi­anist bleibt ihm jedoch ver­wehrt, da ein Granat­split­ter während des Krieges seine rechte Hand ver­let­zte. Im Dezem­ber 2015 wurde Aeham Ahmad der Inter­na­tionale Beethoven­preis für Men­schen­rechte verliehen.