In etwa alle zwei Dekaden fegt eine Welle technologischen Überschwangs durch die Medien. Aus Erfahrung wissen wir, dass diese simplifizierenden Ingenieursfantasien, zumindest genau das exakt skizzieren, was nicht passieren wird. Selbst begeisterte mathematische Modellschreiner müssen dabei eingestehen, dass erneut die Realität nicht zum Modell passt. Was aber erfahrungsgemäß nur Pech für die Realität bedeutet.
Es wäre auch die erste Revolution, die auf amtliche Anordnung stattfinden würde.
Im Folgenden soll das Thema „Industrie 4.0” aus drei Blickwinkel betrachtet werden: erstens der Versuch dem Kern des Konzepts näher zu kommen, zweitens: die „prognostische Kraft” der Diskussion zur „Zukunft der Arbeit”, als zentralem Raum öffentlicher Auseinandersetzung zu bewerten, und drittens: die Wahrscheinlichkeit des möglichen Happy Ends durch die „Rückkehr der Produktion” nach Westeuropa zu skizzieren.
Blickwinkel 1: Das Konzept
Fokussieren wir auf die frühen I 4.0 Papiere, beginnend mit 2011, so könnte man zugespitzt formulieren, es handelt sich um ein Konzept basierend auf dem Innovationsbegriff der 1970er Jahre (Science Push), mit den (nur unmerklich erweiterten) Prämissen der 1980er Jahre (CIM, „Halle 54”) basierend auf der Technologie der 1990er Jahre.(1) Momentan werden nur Neuauflagen längst etablierter Technologien diskutiert, deren Voranschreiten schlicht als inkrementell zu bezeichnen ist. Die diskutierten Szenarien sind bei Lichte betrachtet konservativ und setzen vorwiegend auf Kontinuität. Bestätigt wird das auch durch einen aktuellen Bericht der WGP (Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik) der eine „vollständige Digitalisierung der Produktion” mit dem Horizont 2050 versieht. Zweifellos wird sich bis 2050 vieles in der Produktion verändern, eine revolutionäre Entwicklung ist das aber nicht.
Die Revolutionen die wir erlebt haben und erleben, sind marktschaffende Innovationen. Genau das bewundern wir alle so am „Valley”. Es entstehen neue Märkte mit neuen Spielregeln, tatsächlich neuen Wertschöpfungsketten, Dienstleistungsangeboten und Kapitalisierungsmöglichkeiten. Wir erleben eine intensive Innovationskraft aus der Kooperation von Design, Technologie und sozialwissenschaftlichem Wissen. „In Facebook is as much Sociology and Psychology, as it is Technology,” schreibt dazu der Politologe und CNN-Anchor Fareed Zakaria. Was wir dort eher sporadisch vorfinden, ist die Idee, die Zukunft läge in, im Wesentlichem am Fabrikstor endenden Effizienzsteigerungen und Performanceverbesserungen in der Produktion. Genau das ist aber „I 4.0” im Kern, lässt man den aufwendigen, semantischen Flankenschutz durch zeitgeistige catch-all-Phrasen beiseite. Hochsubventionierte, anwendungsnahe Forschung, die Produkte entwickelt, die dann in den Markt gedrückt werden sollen. Es gibt keine horizontale Marktsicht, sondern nur eine vertikale Technologiesicht, das kann bei aller Technikbegeisterung nicht die Zukunft sein. Wenn also Reischauer (2018) schreibt „There are several indicators that Industry 4.0 understood as policy-driven innovation discourse aims to promote innovation systems in the sense of a Triple Helix mode of innovation”.(2) Yes, there are. Aber wir haben doch 2018, oder? Sollten die Innovationssysteme im Sinne der Triple Helix, also aus University, Industry und Government, nicht schon seit zwei Dekaden etabliert sein?
Und wann wurde nach den Dekaden der „Wissens- und Kreativökonomie” noch mal, die „Produktion” wieder zum Nukleus der europäischen Wirtschaftspolitik? Fragen über Fragen.
Blickwinkel 2: Der Arbeitsmarkt
Ob es sich um den finalen Jobkiller oder die ultimative Jobmaschine für das 21. Jahrhundert handelt, hängt davon ab, welcher Modellrechnung man sich anschließt: das Modell das den höchsten Nachrichtenwert gerierte, war verbunden mit der These vom automatisierungsbedingten Wegfall von 47% amerikanischer Jobs bis 2030, vom Autorenduo Carl Benedikt Frey und Martin Osborne (2013). Betrachtet man dieses Modell näher, stellt man allerdings fest, dass es methodisch fragwürdig ist, da es auf Berufsbilder (Jobs) und nicht Aufgaben (Tasks) fokussiert. Der Alarmismus in den Medien kam auf Basis einer methodisch-diskussionswürdigen Analyse zustande. Das erklärt auch die riesigen Unterschiede in der Vorhersage: sehen Osborne, Frey (und auf deren Modell aufbauende Autoren) fast die Hälfte aller Jobs in den USA wegfallen, berechnet die OECD mit ihrem TASK-orientierten Modell für die USA eine Automatisierungsgefährdung von ca. 9%.(3) Auch andere Quellen sprechen nicht unbedingt für den Eintritt in ein „völlig neues Zeitalter”: Das IPPR hatte 2015 betont „First, the worst Fears about outsourcing as a result of globalization and technological change leading to a reduced aggregate demand for human employees across Europe might be misplaced- at least so far.”(4) Für Österreich betonte Christian Keuschnigg dass, „Digitalisierung und Automatisierung Österreich umfassend betreffen wird (…) zwar ist eine Job-Polarisierung bisher kaum zu bemerken(…).”(5)
Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass die „Zukunft der Arbeit” als wesentliches Feld öffentlicher Auseinandersetzung zwar eine zentrale Rolle im Diskurs einnimmt, aber die Aussage-kraft von bisherigen Prognosen, z.B. für Österreich schwanken diese zwischen 55% und 12%, sind nur sehr bedingt als wertvoll oder gar sinnvoll zu betrachten.
Blickwinkel 3: Die Zieldefinition der „Rückkehr der Produktion”
Eine der Begründungen für die Subventionspolitik rund um „ Industrie 4.0” liegt ja in der These, dass „die Produktion” aus Südostasien wieder nach Westeuropa zurückkehrten könnte.
Verringerung der Transportkosten, Risikominimierung im IP-Bereich, Nähe zu den Absatzmärkten, all das sind einleuchtende Begründungen aus den Wirtschaftswissenschaften. Betrachtet man aber ergänzend dazu, die Entwicklungen in der Blockchain-Technologie, die die globale Logistik zweifellos beschleunigen und in Teilen revolutionieren wird, sowie die chinesische Infrastrukturinitiative OBOR (One Belt One Road), die 16+1 Kooperation am Westbalkan unter chinesischer Führung und die EU-Erweiterungsperspektive für genau diese Staaten mit dem Horizont 2025, stellt sich das Szenario völlig anders dar.
Warum sollten nicht einfach die von OBOR favorisierten chinesischen Staatsunternehmen mit einer wesentlich verbesserten Logistik und ab 2025 sogar innerhalb der EU, genau die „rückkehrende” Produktion in ihrem Einflussbereich behalten? Durch die Kreditvergabepolitik rund um die OBOR-Infrastrukturprojekte werden die 16+1 Staaten in absehbarer Zeit große Probleme haben, die Kreditkosten bedienen zu können. Diese Staaten sind dann sicher sehr aufgeschlossen für sämtliche wirtschaftspolitischen Projekte der Chinesen. Ist das nicht wesentlich realistischer?
(1) Brödner, 2015, S.238; Hessler, 2014, S.60ff.
(2) Reischauer, 2018, S. 29.
(3) Anm.: Österreich hat im OECD-Modell die höchste Automatisierungsgefährdung (aller OECD-Staaten) mit 12%.
(4) Dolphin, 2015, 118.
(5) Keuschnigg, 2017, 32.
Literatur:
Bowles, J. (2014): The Computerization of European jobs-who will win and who will lose from the impact of new technology onto old areas of employment?, Brussels: Bruegel.
Brödner, P. (2015): Industrie 4.0 und Big Data-wirklich ein neuer Technologieschub? In: Hirsch-Kreinsen, H.; Ittermann P.; Niehaus, J. (Hrsg.): Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen. S.231–25.
Dolphin, T. (ed) (2015): Technology, globalization and the future of work in Europe: Essays on employment in a digitised economy, IPPR. http://www.ippr.org/publications/technology-globalisation-and-the-future-of-work-in-europe.
Frey, C. B.; Osbourne, M. (2013): The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computerization” Oxford Martin School Program on the Impacts of Future Technology Working Paper.
Hessler, M. (2016): Zur Persistenz der Argumente im Automatisierungsdiskurs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 66.Jg, H.18–19, S.17–24.
Hessler, M. (2014): Die Halle 54 bei Volkswagen und die Grenzen der Automatisierung. Überlegungen zum Mensch- Maschine-Verhältnis in der industriellen Produktion der 1980er Jahre. In: Zeithistorische Forschungen, Jg. 11, H.1. S.56–76.
Keuschnigg, C. et al (2017): Innovationsland Österreich. F&E, Unternehmensentwicklung und Standortattraktivität.
Reischauer, G. (2018): Industry 4.0 as policy-driven discourse to institutionalize innova-tion systems in manufacturing. Technological Forecasting & Social Change, 132, S. 26–33.
Über den Autor
Dr. Bernhard Seyringer ist Foresight Analyst und leitet den Think Tank MRV Research in Wien/Brüssel.
[…] in einer Revolution: Der Revolution 4.0. Wie ich in Artikeln für das Industriemagazin und die GfZ an der Johannes Kepler Universität geschrieben habe, hinkt so manches daran. Es wäre auch die erste Revolution, die auf amtliche […]