Was werden die heutigen Kinder und Jugendlichen denken, wenn sie, dereinst alt geworden, auf die Jetztzeit zurückschauen? Was werden die Menschen in 100 oder 150 Jahren denken? Werden sie sie ähnlich bewundernd-fasziniert, erschrocken-angewidert oder verständnislos-kopfschüttelnd betrachten, wie wir heute auf frühere Epochen der Menschheitsgeschichte blicken? Werden sie denken: Das war eine große Zeit, ein wirklicher Meilenstein in der Entwicklung menschlicher Kultur und Zivilisation? Oder werden sie denken: Was für ein Niedergang, welche geistige Leere bei materieller Fülle?
Dies vorherzusagen ist unmöglich. Aber es darf spekuliert und Wahrscheinlicheres von Unwahrscheinlicherem geschieden werden. Wahrscheinlich werden sie denken: Noch so eine Ideologie so ein Denk- und Handlungsmuster, aus dem die Menschen Lebenssinn zu ziehen suchten – und abermals vergeblich. Auf den Gedanken, dass dieses Muster der „Natur des Menschen“ gemäß gewesen sei, dürften sie indes kaum kommen. Denn dazu ist dieses Muster zu irrational und bizarr, zu lebens- und menschenfeindlich. Das können die Damaligen, so werden sie hoffentlich denken, doch nicht wirklich gemeint und gewollt haben. Der Mensch ist doch ein vernunftbegabtes Wesen. Aber sie werden – sollten sie sich für die Jetztzeit überhaupt interessieren – zweifeln und fragen:
Warum haben Menschen, die mit materiellen Gütern reich gesegnet waren, diese immer weiter zu mehren versucht, obwohl sie dadurch weder glücklich noch zufriedener wurden? Warum unternahmen sie alles, um ihren Anteil an der Weltgütermenge noch zu erhöhen, obwohl ihnen das meiste ohnehin bereits zufloss? Warum beschädigten sie ihre und die Lebensgrundlage aller anderen Menschen, um ein Wachstum der Wirtschaft zu ermöglichen, das sie gar nicht mehr benötigten? Warum verteilten sie die Früchte gemeinsamer Arbeit global und binnenstaatlich so ungleich, dass Verteilungskonflikte fast zwangsläufig waren?
Warum gaben sie sich mit Mobilitäts- und Siedlungsformen zufrieden, die weit unterhalb ihrer technischen, ökonomischen und ästhetischen Möglichkeiten lagen und ihre Lebensqualität empfindlich beeinträchtigen? Warum unterhielten sie ein Bildungssystem, das nur ein recht schmales Segment ihrer mentalen und emotionalen Fähigkeiten entfaltete, und vernachlässigten den Menschen als Ganzes? Warum nutzten sie nicht die Möglichkeiten technischen Fortschritts, um ihre Arbeitslast zu mindern, sondern steigerten diese bis hinzu Stress und Erschöpfung? Warum pressten sie darüber hinaus alle halbwegs Erwerbsfähigen in Erwerbsarbeit?
Warum taten sie sich so schwer mit ihrem demographischen Wandel, der doch nicht nur unvermeidlich, sondern auch überaus chancenreich war? Warum fürchteten sie sich davor, Lebensrisiken zu schultern, die die Menschen vor ihnen mit größter Selbstverständlichkeit getragen hatten? Warum lieferten sie sich so bedingungslos einem Staat aus, dem sie misstrauten und verachteten? Warum verinnerlichten sie Kommunikationstechniken, durch die sie lange erstrittene Freiheits- und Schutzrechte verloren?
Warum häuften sie immer höhere Schuldenberge auf, obwohl sie es bereits zu einem menschheitsgeschichtlich beispiellosen Wohlstand gebracht hatten? Warum waren sie bereit, die einzigartige kulturelle Vielfalt und Schönheit ihres Kontinents ökonomischer Effizienz und Uniformität zu opfern? Warum strebten sie eine Globalisierung an, die sie weder beherrschen noch steuern konnten? Warum waren sie so unfähig, das, was sie hatten, besser zu nutzen und mehr zu genießen? Oder kurz: Warum waren sie so wenig weise?
So oder ähnlich könnten die Nachgeborenen auf die Jetztzeit zurückblicken und sich wundern, was für ganz und gar wunderliche Menschen in ihr lebten. Vermutlich wäre das die wohlwollendste und liebenswürdigste Rückschau. Sie könnten uns aber auch für die Fülle von Problemen verfluchen, die wir verursacht und ungelöst an sie weitergegeben haben werden: eine überforderte Erde mit einer überforderten Menschheit. Und sie könnten sagen: Was für ein Wahnwitz!
Doch es könnte alles auch ganz anders kommen…
Auszug aus: Meinhard Miegel, Hybris. Die überforderte Gesellschaft. Propyläen Verlag 2014.
Zum Autor
Prof. Dr. Meinhard Miegel ist deutscher Sozialwissenschaftler, Autor und Vorstandsvorsitzender von Denkwerk Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung. Er studierte Soziologie, Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Deutschland und den USA. 1977 gründete er das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, dem er bis zu dessen Auflösung 2008 vorstand. Im Zentrum seiner Arbeit stehen die sich wandelnden Rahmenbedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft.