Paul Michael Zulehner wird am 18. Juni einen DIALOG mit Markus Hengstschläger führen. Wenn ein Theologe und ein Genetiker aufeinandertreffen, verspricht das, interessant zu werden.
Zur Einstimmung hat uns Paul M. Zulehner zwei Auszüge aus seinem jüngsten Buch „Mitgift. Autobiografisches anderer Art” (2014) übermittelt, die einen Einblick in seine persönliche Entwicklung und auf seine Haltung zum Glauben gewähren:
Beijing
Ich kann von Glück sagen, dass ich in den Jahren 2008, 2010 und 2011 zu Vorlesungen ins Priesterseminar in Beijing eingeladen worden war. Diese Reisen waren theologisch besonders prägend. Peter Neuner, Dogmatiker und Ökumeniker aus München, mit dem ich schon seit Passauer Zeiten befreundet bin, war schon vor mir dort tätig. Er hatte den damaligen Studienleiter Johannes Chen-Binshan in München promoviert. Jetzt brauchte dieser im Rahmen des Umbaus des Priesterseminars in eine theologische Fakultät mit Diplomabschlüssen jemanden für Pastoraltheologie. Ich habe mit freudiger Neugierde zugesagt, in diesem mir fremden Land Pastoraltheologie zu unterrichten.
Ich bin in einem katholischen Land groß geworden und auch meine ersten Jahre an der Universität verbrachte ich in den katholischen Gegenden Bambergs und Passaus. Bei den Franken war zudem der Anteil der evangelischen Christen groß. Durch die Ausbildung von Priestern und Pastoralreferentinnen und ‑referenten sowie das Training von Pfarrgemeinderäten und engagierten Mitgliedern in Gemeinden und Verbänden fokussierte ich meine fachliche Arbeit auf die katholische Kirche. „Katholisch“ klang für mich von Kindesbeinen an konfessionell. Das war eine Nachwirkung der Reformation. Denn als sich in der einen „weströmischen“ Kirche im Zuge der Abspaltung der Protestanten in Augsburg um 1530 eine neue Konfession bildete, mutierte auch die katholische Kirche spätestens auf dem Konzil von Trient zu einer solchen. „Katholisch“ meinte dann nachreformatorisch im Vergleich zu den anderen christlichen Kirchen jene „wahre Kirche“, außerhalb derer es kein oder nur in seltenen Ausnahmen Heil gab. Als Bürger eines katholischen Landes beunruhigte mich das nicht ernsthaft. Ich konnte hoffen, dass Gott alle rettet, die mir lieb und teuer sind. Und die wenigen Nichtkatholiken im Land? Diese zu retten überließ ich der weisen Kluglist Gottes.
Ich merkte rasch, dass die chinesischen Studierenden das ganz anders wahrnahmen. Wenn die Katholiken auch in China ein Heilsmonopol haben, wenn also nur getaufte Mitglieder der katholischen Kirche gerettet werden: Kann es dann wirklich Gottes Plan sein, dass nur eine Minderheit des chinesischen Riesenvolks zum Heil kommt? Und die vielen anderen? Sie rührten mit ihren Fragen an ein auch in meiner Biografie sehr wirkmächtiges Thema. Das Heilsmonopol der christlichen Konfessionen wurde mit einer fatalen theologischen Ansicht des Kirchenlehrers Augustinus erklärt: Aus der großen Zahl der Menschheit werde Gott nur eine kleine Schar retten. Augustinus meinte zu wissen, dass es so viele sein werden, als Engel gefallen waren. Die Übrigen würden am Ende eine unübersehbare „massa damnata“ bilden, die große Zahl der Verdammten. In der westkirchlichen Tradition des Christentums wurde diese Ansicht des Augustinus über Jahrhunderte offiziell gelehrt, in Katechismen gedruckt und Kindern beigebracht. Auch ich habe es Kindern in der Volksschule gelehrt.
Orpheus und Eurydike
Meinem Lehrer Rolf Zerfaß verdanke ich den Zugang zum griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike und dessen Ausdeutung durch Clemens von Alexandrien (1). Ich habe diese Geschichte und ihre spirituelle Deutung schon unzählige Male vorgetragen und in den „Kirchenvisionen“ publiziert (2). Kern dieser Erzählung ist die menschheitsalte Frage, was am Ende stärker ist: der Tod oder die Liebe? Bei Sigmund Freud (3), einem der vielen Großen aus meiner Heimatstadt Wien, heißt dieses Paar Eros oder Thanatos. Im griechischen Mythos siegt am Ende der Tod über die Liebe. Denn der liebende Spielmann Orpheus blickt noch einmal zurück und verliert seine geliebte Eurydike für immer.
Clemens von Alexandrien, mit dem Evangelium im Herzen, gelangt zur gegenteiligen Antwort: Der wahre Orpheus ist Christus, der liebende Spielmann Gottes. Dieser konnte seine Eurydike zurücksingen in das Land des Lachens, der Hoffnung und der Auferstehung. Denn anders als der griechische Orpheus hat er sich nicht umgeschaut. Eurydike aber ist für ihn die Menschheit, die in der Gewalt des Todes war.
Clemens ist Universalist. Es geht ihm um Gott und die Welt. Die Kirche ist für ihn daher nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument: die Lyra in der Hand des Christus-Orpheus, die Christi rettendes Lied bis ans Ende der Zeiten singt. Das ist wahrhaft katholisch und zeugt von der Leidenschaft Gottes für alle, die er geschaffen hat. Es zeugt von katholischer Weite.
Quellen:
- Zerfaß, Rolf: Ein Lied vom Leben. Orpheus und das Evangelium, in: Miteinander sprechen und handeln. Festschrift für Hellmut Geissner, hg. v. Edith Slembek, Frankfurt 1986, 343–350.
- Zulehner, Paul M.: Kirchenvisionen. Orientierung in Zeiten des Kirchenumbaus, Ostfildern ³2013, 31–40.
- Irion, Ulrich: Eros und Thanatos in der Moderne, Frankfurt 1987; Clergue, Lucien: Eros and Thanatos, Boston 1985.
Die beiden Textauszüge stammen aus Paul M. Zulehners Buch: Mitgift. Autobiografisches anderer Art. Patmos Verlag. Ostfildern 2014.