Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oder Terroranschläge im Herzen Europas – sie sind maßgebliche Beispiele für Entwicklungen des letzten Jahres, die die Welt in Erstaunen, Schrecken oder Ratlosigkeit versetzt haben. Es sind Ereignisse wie diese, die unser Sicherheitsgefühl erschüttern und alles Gelernte und Bekannte in Frage stellen, während sie Angst vor Veränderung schüren und uns glauben lassen, dass alles außer Kontrolle geraten ist. Über Phänomene wie diese, ihre Auswirkungen, Risiken und Chancen, die sie in sich tragen, haben wir beim siebenten SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM gemeinsam mit internationalen Größen aus Fotografie, Politik und Wirtschaft und Journalismus diskutiert.
Europa bedeutet, die Menschen zusammenzubringen, weil sie so verschieden sind.
„Ist alles außer Kontrolle?“ haben wir uns vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ereignisse beim diesjährigen Symposium gefragt. Eines wurde in den Gesprächen schnell klar: Der Blickwinkel des großen Ganzen enthüllt, dass nicht alles so außer Kontrolle ist, wie es zu sein scheint. Denn Unsicherheit und Instabilität sind oftmals genau jene Größen, die nicht nur den Fortbestand einer Gesellschaft, sondern auch ihre Weiterentwicklung garantieren. Sie sind jene Faktoren, die es braucht, um Sicherheit, Stabilität und am Ende auch Freiheit in unserem gesellschaftlichen Miteinander zu erlangen. Welchen Einflussgrößen Kontrolle unterliegt, wie wir mit scheinbaren oder tatsächlichen Kontrollverlusten umgehen sollten und wie wir sie auch in Zukunft für uns nützen können, war Gegenstand der intensiven Diskussionen.
Eine Frage der Normalität
In Kriegsgebieten zu leben, ist für nahezu jeden von uns unvorstellbar. Zu unsicher und unkontrollierbar ist dort die Situation, zu viel dem Zufall oder Schicksal überlassen. Was wir aber nicht sehen: Auch der Krieg hat eine perfide Normalität. Denn Menschen in Kriegsgebieten haben sich an das Leben in ebendiesen angepasst, folgen in ihrem Alltag bestimmten Routinen und Handlungsmustern. Sie führen ein – für sie – normales Leben. Die Erzählungen von Andrea Bruce, die diese Art von Normalität zum Mittelpunkt ihres Schaffens gemacht hat, zeigen uns, dass die Wahrnehmung zwischen der Existenz oder dem Verlust von Kontrolle vor allem eine Frage der Perspektive und Normativität ist. Im Zentrum der Wahrnehmung steht das persönliche Empfinden darüber, was für einen selbst und die Umgebung, in der man lebt, normal ist.
Kontrollverlust als Chance für Innovation
Vor dem selben Hintergrund haben wir uns im Rahmen der Diskussionen die Frage gestellt, ob Kontrollverlust zu Weiterentwicklung und Innovation führen kann. Die Gespräche haben deutlich gemacht, dass Krisen im allgemeinen Verständnis durchaus Chancen für Neues bieten können. Aber welchen Kontrollverlust man in welchem Ausmaß zulässt und wie man mit ihm umgeht, ist entscheidend für die potenzielle Weiterentwicklung und Innovation in einer Gesellschaft.
Müssen wir bewusst Kontrolle abgeben, um kreativ sein zu können?
Viele Herausforderungen der Menschheitsgeschichte haben zu Weiterentwicklungen geführt, manche davon erstrebenswerter als andere. Es liegt daher in unser aller Verantwortung, weitblickend Freiräume für Neues zu schaffen und offen auf Chancen zuzugehen, denn letzten Endes lebt jedes System von Veränderung und Fortschritt. Diese Erkenntnis ist wesentlich, wenn man sich als Gesellschaft nicht dem Stillstand hingeben, sondern den Weg in Richtung Innovation und Fortschritt gehen will.
Kontrolle und Verantwortung
Was ist das richtige Maß an Kontrolle? Und wer ist für die Ausübung von Kontrolle verantwortlich? Das richtige Maß an Kontrolle zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Zu unterschiedlich sind die Auffassungen der zu kontrollierenden Bereiche und jener, in denen Kontrolle mehr Belastung als Fortschritt bedeutet. Um annähernd an ein vermeintlich richtiges Maß an Kontrolle heranzukommen, dürfen wir die Verantwortung für die Beantwortung der obigen Fragen nicht länger an andere delegieren.
Etwas zu verändern, heißt Kontrolle zu verlieren, aber auch die Chance auf Weiterentwicklung.
Denn die Ausübung von (dem richtigen Maß an) Kontrolle obliegt, abhängig von den Bereichen, in denen wir uns bewegen, jedem von uns. Wir sehen es daher als zentrales Element einer funktionierenden Gesellschaft, am gesellschaftspolitischen Prozess aktiv teilzunehmen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Kontrolle auszuüben oder bewusst wegzulassen. Denn wer unachtsam ist und sich seiner Verantwortung entzieht, wird am Ende tatsächlich die Kontrolle verlieren.
Kontrolle durch Emotion
Im Rahmen unserer Gespräche haben wir uns auch die Frage gestellt, wie man Kontrolle über Meinungen oder eine Gesellschaft erlangen kann. Die Antworten darauf waren genauso vielfältig wie die Fragestellung an sich. Eines war ihnen aber gemein: Kontrolle erlangt man vor allem durch Emotion, nicht durch Logik oder Anonymität. Ein Foto, eine politische Entscheidung, die Relevanz von Nachrichten oder Medien – sie alle leben vom Spiel mit unseren Emotionen. Ihr Erfolg steht und fällt mit dem Vermögen, Emotionen bei ihren Adressaten hervorrufen und damit auch kontrollieren zu können. Diesen Umstand haben vor allem populistische Bewegungen bereits verstanden und sich immer wieder zunutze gemacht. Im Zeitalter der emotionalen Angstmache sehen wir es daher als unsere Aufgabe, dieser Bewegung entschieden entgegenzutreten und uns für eine Umkehr in die Kontrolle von positiven Emotionen einzusetzen.
Weitsicht durch Kontrollverlust
Spätestens seit den Entwicklungen des letzten Jahres ist für viele nichts mehr so, wie es war. Europa und die Welt wurden im Kern erschüttert, Vertrautes zerstört und Gelerntes auf die Probe gestellt. Was zurückgeblieben ist, sind Ungewissheit, Sorge und Angst. Die intensiven Gespräche, Erkenntnisse und persönlichen Eindrücke haben uns aber gezeigt, dass Krisen nicht immer das Schreckgespenst sind, für das wir sie halten. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, sind sie manchmal sogar vorhersagbar und, selbst wenn sie uns mit voller Wucht treffen, durchaus zu bewältigen. Damit wir einen nahenden oder bereits existierenden Kontrollverlust für uns nutzen können, bedarf es nicht nur einer großen Portion an Achtsamkeit für die Gegenwart, es braucht auch den Blick für die Vergangenheit, den Mut, Dinge in Angriff zu nehmen, und die Gabe, bereits Gelerntes umzusetzen. Wenn wir diese Fähigkeiten in uns vereinen, können wir schon heute aus den Kontrollverlusten der Vergangenheit für die Herausforderungen der Zukunft lernen und ihnen mit Weitsicht anstatt mit Angst und Unsicherheit begegnen.