Das Gefühl, dass die Politik alles unter Kontrolle hat – das wollen die Menschen, erklärt der britische Politiker und Vice-Director von Goldman Sachs International. Das Interview zusammengefasst von Alan Webber.
Radikale Umbrüche sind im ökonomischen Leben einer freien Gesellschaft unvermeidbar. Disruption ist das Ergebnis neuer Ideen, neuer Herangehensweisen und neuer Techniken. Aber es gibt auch eine negative Seite von Disruption. Die Frage lautet: Wie behandeln wir als Gesellschaft einerseits die guten Seiten von Innovation und andererseits die Kosten, welche die Menschen tragen müssen? Vom gesellschaftlichen Blickwinkel aus ist es wichtig, dass wir den Wandel ermöglichen. Wenn er aber außer Kontrolle gerät, werden die Menschen verängstigt.
Großbritannien verlässt nicht Europa sondern Brüssel.
Beim Brexit ging es darum, dass das Vereinigte Königreich wieder die Kontrolle über zwei Dinge zurückbekommt: seine Gesetze und seine Grenzen. Ich denke nicht, dass die Briten rassistisch, xenophob, nativistisch oder gar faschistisch sind. Das Problem ist, dass die Regierung einige Jahre lang ein Zuwanderungsziel vorgeschlagen hat, über das regelmäßig hinausgeschossen wurde. Die Regierung erscheint unfähig, Zuwanderung zu kontrollieren.
Heute kann man Gesellschaften in „Global-Menschen“ und „Regional-Menschen“ unterteilen. „Global-Menschen“ sind typischerweise Universitätsabsolventen, Fachkräfte, international mobil und tendieren dazu, sozialliberal zu sein. „Regional-Menschen“ sind hingegen eher Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren wirklich gelitten haben. Sie sind Fischer aus Cornwall, walisische Schafbauern, Stahlarbeiter aus Sheffield. Ihre realen Einkommen sind zurückgegangen.
Der Brexit war ihre Protestwahl. Sie sagten: „Stopp! Wir sind auch ein Teil dieser Gesellschaft und keiner interessiert sich dafür, was mit uns geschehen ist.“ Eigentlich ist die Ungleichheit in England in den letzten Jahren zurückgegangen und ist jetzt auf dem gleichen Level wie 1984, aber das Gefühl der Ausgrenzung ist größer. Und es gibt einen anderen Einflussfaktor. Als ich aufwuchs, dachten die meisten Eltern, dass es ihren Kindern einmal besser gehen würde als ihnen. Heute haben die Leute nicht mehr diese Zuversicht, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden.
Großbritannien ist nicht gegen Europa.
Ich glaube, dass unsere Gesellschaft zu individualistisch geworden ist. Menschen suchen nach einer Gemeinschaft, nach einem Leben in einer Gemeinschaft. Und sie suchen nach dem Geistlichen. Wer sich mit Geschichte beschäftigt, versteht, dass wir in Europa unterschiedliche Kulturen haben, unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Institutionen, unterschiedliche Literatur. Die Vision von 1945, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die ein starkes katholisches Element in sich trug, war eine tolle Vision. Aber während sie den Nationalismus unterdrückte, untergrub sie gleichzeitig den Patriotismus.
Ein zentrales Element des Brexit ist diese Idee des Patriotismus – nicht Nationalismus, sondern Patriotismus. Der Grund für das Wachstum der Minderheitenparteien in Europa, von denen einige sehr hässliche Seiten haben, ist, dass wir den Menschen die Möglichkeit verweigert haben, öffentlich sagen zu können „Ich bin ein Patriot“, ohne dabei ein Nationalist zu sein. Es ist in unserem eigenen Interesse als Vereinigtes Königreich, dass es eine starke Europäische Union gibt. Am Ende wird der Austritt Großbritanniens aus der EU gut für Europa sein. Er zwingt Europa dazu, die Tatsache zu erkennen, dass die gegenwärtige Entwicklungsrichtung nicht nachhaltig ist.
ich denke, Disruption ist einfach alles in unserer Wirtschaft. Sie geht mit Innovation einher.
Wenn ich darüber nachdenke, was dies alles für Oberösterreich bedeutet, würde ich als Erstes sagen, dass Regionalisierung sehr wichtig ist. Gibt es Bereiche, über die Oberösterreich wieder stärkere Kontrolle von Wien übernehmen könnte? Zweitens, investieren wir genug in technische Ausbildung, Berufsbildung und Technologie allgemein? Und schließlich muss sich der Wohlfahrtsstaat hin zu einer Wohlfahrtsgesellschaft wandeln, einer echten Gemeinschaft, in der Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch bei anderen aus ihrer jeweiligen Gemeinschaft finden können.
VITA
Lord Brian Griffiths ist ein namhafter britischer Ökonom. Er absolvierte die London School of Economics and Political Science, wo er dann auch als Professor tätig war, bevor er zur City University London wechselte. Neben seiner Tätigkeit als Dekan der City University Business School war er von 1983 bis 1985 auch der Direktor der Bank of England.
Als innenpolitischer Berater von Margaret Thatcher war Brian Griffiths zwischen 1985 und 1990 in der „Downing Street Number 10“ als Leiter der Prime Minister‘s Policy Unit tätig. Brian Griffiths war die treibende Kraft und das Mastermind hinter der Privatisierung und den Deregulierungsprogrammen sowie hinter Bildungs- und Rundfunkreformen, die zum Markenzeichen des Thatcherismus wurden.
Nach dem Rücktritt Thatchers ging Brian Griffiths zu Goldman Sachs International, wo er auch heute noch als Aufsichtsratsmitglied tätig ist. Im Laufe seiner Karriere befasste sich Lord Griffiths intensiv mit der Beziehung zwischen Wirtschaftsfragen und christlichem Glauben und veröffentlichte zahlreiche Bücher über Finanzpolitik und Ethik in der Wirtschaft.
Seit 1991 ist Brian Griffiths Mitglied des britischen House of Lords und sprach sich für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union aus.