Die Moral auf dem Teller
Workshop-Leiterin Martina Kaller-Dietrich verwies gleich am Beginn der Diskussionen darauf, dass die meisten Ernährungstrends immer wieder aus den USA nach Europa kommen. Ein Blick über den großen Teich ist also für Europäer wie ein Blick in die nahe Zukunft. Ein Grund dafür könnte im höheren Grad der Individualisierung in der US-Gesellschaft sowie am Überangebot an Möglichkeiten in den USA liegen. Da die USA, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, hohe landwirtschaftliche Überschüsse im Vergleich zu Europa hatten, konnten sie ihre Lebensmittel nach Europa exportieren und damit auch die Ernährungsgewohnheiten mitbeeinflussen. Die auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg andauernde hohe landwirtschaftliche Produktion in den USA ermöglichte kostengünstige Lebensmittelexporte in alle Teile der Welt (auch in die UdSSR). Durch diesen Export von US-amerikanischen Lebensmitteln wurden viele weltweite Trends von den USA ausgehend begründet.
Dabei ist die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln auf dem Globus heute kein landwirtschaftliches Problem mehr, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Bereits im 18. Jahrhundert stellte der englische Pastor Thomas Malthus die These auf, dass die Bevölkerung immer exponentiell anwachse, die Nahrungsmittelproduktion jedoch nur linear. Durch die Lücke zwischen diesen Wachstumsraten entstehe eine Hungerproblematik die - nach Malthus - nur durch Reduktion der Bevölkerung mittels Hungersnöten, Kriegen usw. gelöst werden könne. Diese These wird zwar immer noch oft in Diskussionen vertreten, hat sich aber als völlig falsch herausgestellt. Die globale Bevölkerungsentwicklung in den letzten 200 Jahren hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, dass die landwirtschaftliche Produktion mit dem Bevölkerungswachstum mithalten kann. Ausreichende Lebensmittelversorgung ist, wie erwähnt, mehr eine Frage der Verteilung und Lagerung, als der Produktion.
Deshalb sitzt die Moral auch immer neben uns am Tisch, wenn wir uns zur Mahlzeit niederlassen. Und viele Ernährungstrends der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft weisen eine starke moralische Komponente auf.
Erwartete Trends und wichtige Aspekte in den Ernährungsgewohnheiten:
Gesundheit als wichtiger Ernährungstrend
Die Erkenntnis, dass eine gesunde Lebensführung, neben anderen Faktoren, stark von der richtigen Ernährungsweise abhängt, wird in Zukunft immer dominanter werden. Hier wird ein Hauptaugenmerk auf die Zuckerproblematik gestellt werden. Zucker, und nicht mehr Fett, ist heute der kritischste Bestandteil unserer Lebensmittel. Da Fett mittlerweile weitestgehend vermieden wird, muss der Zucker einerseits als Geschmacksträger die Funktion des Fetts übernehmen und andererseits als Konservierungsmittel für die möglichst lange Haltbarkeit von Lebensmittel garantieren.
"Supermärkte sind wie Irrenanstalten: keiner der Mitarbeiter oder Insassen hat etwas zu reden, zu bestimmen oder eine Ahnung, wohin die Entwicklung geht." – Martina Kaller-Dietrich
Ernährungs-Bildung essentiell für Zukunft
Um den idealen persönlichen Umgang mit Ernährung finden zu können, bedarf es ausreichender Information und Bildung. Da der Trend zu mehr Gesundheit dominant werden wird, wird dementsprechend auch der Bedarf nach adäquater Information sowie deren Vermittlung zentral werden. Während in Österreich etwa Unterrichtseinheiten zur Hauswirtschaft (in deren Kontext oft auch gesunde Ernährung näher gebracht wurde) vermehrt abgebaut werden, ist in einigen skandinavischen Ländern das Fach Ernährungsbildung das viert-wichtigste Fach in den Schulen. Vielleicht wird es eine Aufgabe der Landwirte werden, Informationen über eine gesunde Ernährung zusätzlich zu ihren landwirtschaftlichen Produkten anzubieten.
Gastrosexualismus als Trend der Wohlstandsgesellschaft
Vor allem Männer erobern zunehmend die private Küche zu feierlichen Anlässen, um - unter hohem Aufwand - Mahlzeiten zuzubereiten. Die alltägliche Zubereitung von Gerichten überlassen die "Gastrosexuellen" jedoch üblicherweise anderen (Frauen). In diesen Kontext sind auch die von männlichen Köchen dominierten TV-Koch-Shows einzuordnen. Sie stellen sozusagen das öffentliche Gesicht dieses privaten Trends dar. Doch warum dieser Trend zum inszenierten Kochen bei Männern? Aus Prestigegründen! Die Zubereitung einer aufwändigen und ausgefallenen kulinarischen Köstlichkeit ist für den Koch mit Lob und sozialem Prestige verbunden - deshalb tendieren Männer dazu, bei diesen semi-privaten Anlässen groß aufzukochen.
"Das erste, was ein Mann in einer Küche kauft, ist ein unglaublich teures und tolles Messerset." – Martina Kaller-Dietrich
Trend zur fleischlosen Kost - Vegetarismus und Veganismus
Bereits im 19. Jahrhundert entstand ein Trend unter wohlhabenden Personen, der eine bewusstere Lebensführung und Ernährung gegen die Fehlentwicklungen der industriellen Produktion propagierte. Diese Lebensreformbewegung war Grundlage eines gesellschaftspolitisch motivierten Vegetarismus, der seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Anhänger findet und derzeit im Phänomen des Veganismus gipfelt. Begründet wurde dieses Prinzip, wonach keine Produkte, die von Tieren stammen, in der Ernährung oder Kleidung verwendet werden dürfen, im Jahr 1944 von dem Briten Donald Watson (1910-2005). Mehr Details dazu finden sich in der Präsentation von Martina Kaller-Dietrich.
Freeganismus als Reaktion auf die Wegwerfgesellschaft
Aus dem Müll leben. Antikapitalistische, grundsätzliche Kritik an der "Wegwerfgesellschaft", die eine Ernährung unabhängig vom kapitalistischen Konsum ermöglichen soll. Hierzu werden aus dem Müll von Supermärkten noch verwertbare Lebensmittel gesammelt und oft in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten verteilt und so die Prinzipien der Volxküchen, Umsonstläden und Tauschringen ausgeweitet; teilweise in Verbindung mit dem Konzept der "Sharing Economy".
Vegetarismus, Veganismus und Freeganismus kombinieren die persönliche Ernährungsweise mit gesellschaftspolitischer Kritik, adressieren dabei ein junges Publikum und stellen den Anspruch der kollektiven Heilung durch (vegane) Ernährung aus der Mülltonne. Die umweltgerechte, nachhaltige, regionale Ernährungsweise findet bei den derzeitigen Trendsettern vegetarischer/veganer oder freeganer Ernährung jedoch kaum oder gar keine Beachtung - ähnlich wie beim Mainstream der Konsument. Hier liegt noch ein großes Potential.
Preisentwicklungen bei Lebensmitteln
Wie zentral die Frage der Lebensmittelpreise ist, zeigt sich daran, dass z.B. die Revolutionswelle des Arabischen Frühlings in engem Zusammenhang mit einem gestiegenen Brotpreis in den jeweiligen Ländern stand. Dabei sind gerade in den westlichen Märkten vor allem die Verpackungen und das Marketing zentrale Faktoren für die Lebensmittelpreise in Supermärkten, während die Erzeugerpreise der Lebensmittel konstant niedrig bleiben. Ein wichtiger Aspekt ist hier, dass die Konsumenten makellose Lebensmittel in den Regalen erwarten. Deshalb werden in den Supermärkten ein Drittel der frischen Lebensmittel weggeworfen oder verderben - was indirekt in die Preise einfließt. Direkt beim regionalen Erzeuger zu kaufen, ist meist billiger - jedoch braucht man dafür auch einen höheren Aufwand an Zeit, die viele in der heute immer schneller werdenden Zeit nicht mehr haben.
Ein gesundes und souveränes Ernährungsverhalten kostet also weniger Geld aber auch mehr Zeit. Es besteht für die Zukunft die Notwendigkeit für Ideen, um den Zeitverbrauch für dieses Verhalten zu reduzieren und es breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.
Lesetipps:
Michael Pollan: Cooked. A natural history of transformation. Penguin Press HC 2013.
Michael Pollan: Food Rules. An eater"s manifesto. Penguin Books 2009.
Website: michaelpollan.com/books
Joseph Collins u.a.: World Hunger. Twelve Myths. Grove Press 1998.
Zur Person
Im Jahr 2000 habilitierte Martina Kaller-Dietrich mit einer ernährungs-geschichtlichen Arbeit mit dem Titel "Macht über Mägen. Essen als eigenmächtiges Tätigsein von Frauen in einem mexikanischen Dorf". Für die Ausstellung "Essen unterwegs. Eine Ausstellung zu Mobilität und Wandel" im Jahr 2011, im Schlossmuseum Linz zeichnete sie als Kuratorin verantwortlich. Seit dem Jahr 1995 wendet sich Martina Kaller-Dietrich verstärkt Fragen von Nahrung, Geschlechter- und Machtverhältnissen in historischer Perspektive zu.
Die Moral auf dem Teller
Workshop-Leiterin Martina Kaller-Dietrich verwies gleich am Beginn der Diskussionen darauf, dass die meisten Ernährungstrends immer wieder aus den USA nach Europa kommen. Ein Blick über den großen Teich ist also für Europäer wie ein Blick in die nahe Zukunft. Ein Grund dafür könnte im höheren Grad der Individualisierung in der US-Gesellschaft sowie am Überangebot an Möglichkeiten in den USA liegen. Da die USA, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, hohe landwirtschaftliche Überschüsse im Vergleich zu Europa hatten, konnten sie ihre Lebensmittel nach Europa exportieren und damit auch die Ernährungsgewohnheiten mitbeeinflussen. Die auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg andauernde hohe landwirtschaftliche Produktion in den USA ermöglichte kostengünstige Lebensmittelexporte in alle Teile der Welt (auch in die UdSSR). Durch diesen Export von US-amerikanischen Lebensmitteln wurden viele weltweite Trends von den USA ausgehend begründet.
Dabei ist die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln auf dem Globus heute kein landwirtschaftliches Problem mehr, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Bereits im 18. Jahrhundert stellte der englische Pastor Thomas Malthus die These auf, dass die Bevölkerung immer exponentiell anwachse, die Nahrungsmittelproduktion jedoch nur linear. Durch die Lücke zwischen diesen Wachstumsraten entstehe eine Hungerproblematik die - nach Malthus - nur durch Reduktion der Bevölkerung mittels Hungersnöten, Kriegen usw. gelöst werden könne. Diese These wird zwar immer noch oft in Diskussionen vertreten, hat sich aber als völlig falsch herausgestellt. Die globale Bevölkerungsentwicklung in den letzten 200 Jahren hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, dass die landwirtschaftliche Produktion mit dem Bevölkerungswachstum mithalten kann. Ausreichende Lebensmittelversorgung ist, wie erwähnt, mehr eine Frage der Verteilung und Lagerung, als der Produktion.
Deshalb sitzt die Moral auch immer neben uns am Tisch, wenn wir uns zur Mahlzeit niederlassen. Und viele Ernährungstrends der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft weisen eine starke moralische Komponente auf.
Erwartete Trends und wichtige Aspekte in den Ernährungsgewohnheiten:
Gesundheit als wichtiger Ernährungstrend
Die Erkenntnis, dass eine gesunde Lebensführung, neben anderen Faktoren, stark von der richtigen Ernährungsweise abhängt, wird in Zukunft immer dominanter werden. Hier wird ein Hauptaugenmerk auf die Zuckerproblematik gestellt werden. Zucker, und nicht mehr Fett, ist heute der kritischste Bestandteil unserer Lebensmittel. Da Fett mittlerweile weitestgehend vermieden wird, muss der Zucker einerseits als Geschmacksträger die Funktion des Fetts übernehmen und andererseits als Konservierungsmittel für die möglichst lange Haltbarkeit von Lebensmittel garantieren.
"Supermärkte sind wie Irrenanstalten: keiner der Mitarbeiter oder Insassen hat etwas zu reden, zu bestimmen oder eine Ahnung, wohin die Entwicklung geht." – Martina Kaller-Dietrich
Ernährungs-Bildung essentiell für Zukunft
Um den idealen persönlichen Umgang mit Ernährung finden zu können, bedarf es ausreichender Information und Bildung. Da der Trend zu mehr Gesundheit dominant werden wird, wird dementsprechend auch der Bedarf nach adäquater Information sowie deren Vermittlung zentral werden. Während in Österreich etwa Unterrichtseinheiten zur Hauswirtschaft (in deren Kontext oft auch gesunde Ernährung näher gebracht wurde) vermehrt abgebaut werden, ist in einigen skandinavischen Ländern das Fach Ernährungsbildung das viert-wichtigste Fach in den Schulen. Vielleicht wird es eine Aufgabe der Landwirte werden, Informationen über eine gesunde Ernährung zusätzlich zu ihren landwirtschaftlichen Produkten anzubieten.
Gastrosexualismus als Trend der Wohlstandsgesellschaft
Vor allem Männer erobern zunehmend die private Küche zu feierlichen Anlässen, um - unter hohem Aufwand - Mahlzeiten zuzubereiten. Die alltägliche Zubereitung von Gerichten überlassen die "Gastrosexuellen" jedoch üblicherweise anderen (Frauen). In diesen Kontext sind auch die von männlichen Köchen dominierten TV-Koch-Shows einzuordnen. Sie stellen sozusagen das öffentliche Gesicht dieses privaten Trends dar. Doch warum dieser Trend zum inszenierten Kochen bei Männern? Aus Prestigegründen! Die Zubereitung einer aufwändigen und ausgefallenen kulinarischen Köstlichkeit ist für den Koch mit Lob und sozialem Prestige verbunden - deshalb tendieren Männer dazu, bei diesen semi-privaten Anlässen groß aufzukochen.
"Das erste, was ein Mann in einer Küche kauft, ist ein unglaublich teures und tolles Messerset." – Martina Kaller-Dietrich
Trend zur fleischlosen Kost - Vegetarismus und Veganismus
Bereits im 19. Jahrhundert entstand ein Trend unter wohlhabenden Personen, der eine bewusstere Lebensführung und Ernährung gegen die Fehlentwicklungen der industriellen Produktion propagierte. Diese Lebensreformbewegung war Grundlage eines gesellschaftspolitisch motivierten Vegetarismus, der seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Anhänger findet und derzeit im Phänomen des Veganismus gipfelt. Begründet wurde dieses Prinzip, wonach keine Produkte, die von Tieren stammen, in der Ernährung oder Kleidung verwendet werden dürfen, im Jahr 1944 von dem Briten Donald Watson (1910-2005). Mehr Details dazu finden sich in der Präsentation von Martina Kaller-Dietrich.
Freeganismus als Reaktion auf die Wegwerfgesellschaft
Aus dem Müll leben. Antikapitalistische, grundsätzliche Kritik an der "Wegwerfgesellschaft", die eine Ernährung unabhängig vom kapitalistischen Konsum ermöglichen soll. Hierzu werden aus dem Müll von Supermärkten noch verwertbare Lebensmittel gesammelt und oft in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten verteilt und so die Prinzipien der Volxküchen, Umsonstläden und Tauschringen ausgeweitet; teilweise in Verbindung mit dem Konzept der "Sharing Economy".
Vegetarismus, Veganismus und Freeganismus kombinieren die persönliche Ernährungsweise mit gesellschaftspolitischer Kritik, adressieren dabei ein junges Publikum und stellen den Anspruch der kollektiven Heilung durch (vegane) Ernährung aus der Mülltonne. Die umweltgerechte, nachhaltige, regionale Ernährungsweise findet bei den derzeitigen Trendsettern vegetarischer/veganer oder freeganer Ernährung jedoch kaum oder gar keine Beachtung - ähnlich wie beim Mainstream der Konsument. Hier liegt noch ein großes Potential.
Preisentwicklungen bei Lebensmitteln
Wie zentral die Frage der Lebensmittelpreise ist, zeigt sich daran, dass z.B. die Revolutionswelle des Arabischen Frühlings in engem Zusammenhang mit einem gestiegenen Brotpreis in den jeweiligen Ländern stand. Dabei sind gerade in den westlichen Märkten vor allem die Verpackungen und das Marketing zentrale Faktoren für die Lebensmittelpreise in Supermärkten, während die Erzeugerpreise der Lebensmittel konstant niedrig bleiben. Ein wichtiger Aspekt ist hier, dass die Konsumenten makellose Lebensmittel in den Regalen erwarten. Deshalb werden in den Supermärkten ein Drittel der frischen Lebensmittel weggeworfen oder verderben - was indirekt in die Preise einfließt. Direkt beim regionalen Erzeuger zu kaufen, ist meist billiger - jedoch braucht man dafür auch einen höheren Aufwand an Zeit, die viele in der heute immer schneller werdenden Zeit nicht mehr haben.
Ein gesundes und souveränes Ernährungsverhalten kostet also weniger Geld aber auch mehr Zeit. Es besteht für die Zukunft die Notwendigkeit für Ideen, um den Zeitverbrauch für dieses Verhalten zu reduzieren und es breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.
Lesetipps:
Michael Pollan: Cooked. A natural history of transformation. Penguin Press HC 2013.
Michael Pollan: Food Rules. An eater"s manifesto. Penguin Books 2009.
Website: michaelpollan.com/books
Joseph Collins u.a.: World Hunger. Twelve Myths. Grove Press 1998.
Zur Person
Im Jahr 2000 habilitierte Martina Kaller-Dietrich mit einer ernährungs-geschichtlichen Arbeit mit dem Titel "Macht über Mägen. Essen als eigenmächtiges Tätigsein von Frauen in einem mexikanischen Dorf". Für die Ausstellung "Essen unterwegs. Eine Ausstellung zu Mobilität und Wandel" im Jahr 2011, im Schlossmuseum Linz zeichnete sie als Kuratorin verantwortlich. Seit dem Jahr 1995 wendet sich Martina Kaller-Dietrich verstärkt Fragen von Nahrung, Geschlechter- und Machtverhältnissen in historischer Perspektive zu.
Die Moral auf dem Teller
Workshop-Leiterin Martina Kaller-Dietrich verwies gleich am Beginn der Diskussionen darauf, dass die meisten Ernährungstrends immer wieder aus den USA nach Europa kommen. Ein Blick über den großen Teich ist also für Europäer wie ein Blick in die nahe Zukunft. Ein Grund dafür könnte im höheren Grad der Individualisierung in der US-Gesellschaft sowie am Überangebot an Möglichkeiten in den USA liegen. Da die USA, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, hohe landwirtschaftliche Überschüsse im Vergleich zu Europa hatten, konnten sie ihre Lebensmittel nach Europa exportieren und damit auch die Ernährungsgewohnheiten mitbeeinflussen. Die auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg andauernde hohe landwirtschaftliche Produktion in den USA ermöglichte kostengünstige Lebensmittelexporte in alle Teile der Welt (auch in die UdSSR). Durch diesen Export von US-amerikanischen Lebensmitteln wurden viele weltweite Trends von den USA ausgehend begründet.
Dabei ist die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln auf dem Globus heute kein landwirtschaftliches Problem mehr, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Bereits im 18. Jahrhundert stellte der englische Pastor Thomas Malthus die These auf, dass die Bevölkerung immer exponentiell anwachse, die Nahrungsmittelproduktion jedoch nur linear. Durch die Lücke zwischen diesen Wachstumsraten entstehe eine Hungerproblematik die - nach Malthus - nur durch Reduktion der Bevölkerung mittels Hungersnöten, Kriegen usw. gelöst werden könne. Diese These wird zwar immer noch oft in Diskussionen vertreten, hat sich aber als völlig falsch herausgestellt. Die globale Bevölkerungsentwicklung in den letzten 200 Jahren hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, dass die landwirtschaftliche Produktion mit dem Bevölkerungswachstum mithalten kann. Ausreichende Lebensmittelversorgung ist, wie erwähnt, mehr eine Frage der Verteilung und Lagerung, als der Produktion.
Deshalb sitzt die Moral auch immer neben uns am Tisch, wenn wir uns zur Mahlzeit niederlassen. Und viele Ernährungstrends der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft weisen eine starke moralische Komponente auf.
Erwartete Trends und wichtige Aspekte in den Ernährungsgewohnheiten:
Gesundheit als wichtiger Ernährungstrend
Die Erkenntnis, dass eine gesunde Lebensführung, neben anderen Faktoren, stark von der richtigen Ernährungsweise abhängt, wird in Zukunft immer dominanter werden. Hier wird ein Hauptaugenmerk auf die Zuckerproblematik gestellt werden. Zucker, und nicht mehr Fett, ist heute der kritischste Bestandteil unserer Lebensmittel. Da Fett mittlerweile weitestgehend vermieden wird, muss der Zucker einerseits als Geschmacksträger die Funktion des Fetts übernehmen und andererseits als Konservierungsmittel für die möglichst lange Haltbarkeit von Lebensmittel garantieren.
"Supermärkte sind wie Irrenanstalten: keiner der Mitarbeiter oder Insassen hat etwas zu reden, zu bestimmen oder eine Ahnung, wohin die Entwicklung geht." – Martina Kaller-Dietrich
Ernährungs-Bildung essentiell für Zukunft
Um den idealen persönlichen Umgang mit Ernährung finden zu können, bedarf es ausreichender Information und Bildung. Da der Trend zu mehr Gesundheit dominant werden wird, wird dementsprechend auch der Bedarf nach adäquater Information sowie deren Vermittlung zentral werden. Während in Österreich etwa Unterrichtseinheiten zur Hauswirtschaft (in deren Kontext oft auch gesunde Ernährung näher gebracht wurde) vermehrt abgebaut werden, ist in einigen skandinavischen Ländern das Fach Ernährungsbildung das viert-wichtigste Fach in den Schulen. Vielleicht wird es eine Aufgabe der Landwirte werden, Informationen über eine gesunde Ernährung zusätzlich zu ihren landwirtschaftlichen Produkten anzubieten.
Gastrosexualismus als Trend der Wohlstandsgesellschaft
Vor allem Männer erobern zunehmend die private Küche zu feierlichen Anlässen, um - unter hohem Aufwand - Mahlzeiten zuzubereiten. Die alltägliche Zubereitung von Gerichten überlassen die "Gastrosexuellen" jedoch üblicherweise anderen (Frauen). In diesen Kontext sind auch die von männlichen Köchen dominierten TV-Koch-Shows einzuordnen. Sie stellen sozusagen das öffentliche Gesicht dieses privaten Trends dar. Doch warum dieser Trend zum inszenierten Kochen bei Männern? Aus Prestigegründen! Die Zubereitung einer aufwändigen und ausgefallenen kulinarischen Köstlichkeit ist für den Koch mit Lob und sozialem Prestige verbunden - deshalb tendieren Männer dazu, bei diesen semi-privaten Anlässen groß aufzukochen.
"Das erste, was ein Mann in einer Küche kauft, ist ein unglaublich teures und tolles Messerset." – Martina Kaller-Dietrich
Trend zur fleischlosen Kost - Vegetarismus und Veganismus
Bereits im 19. Jahrhundert entstand ein Trend unter wohlhabenden Personen, der eine bewusstere Lebensführung und Ernährung gegen die Fehlentwicklungen der industriellen Produktion propagierte. Diese Lebensreformbewegung war Grundlage eines gesellschaftspolitisch motivierten Vegetarismus, der seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Anhänger findet und derzeit im Phänomen des Veganismus gipfelt. Begründet wurde dieses Prinzip, wonach keine Produkte, die von Tieren stammen, in der Ernährung oder Kleidung verwendet werden dürfen, im Jahr 1944 von dem Briten Donald Watson (1910-2005). Mehr Details dazu finden sich in der Präsentation von Martina Kaller-Dietrich.
Freeganismus als Reaktion auf die Wegwerfgesellschaft
Aus dem Müll leben. Antikapitalistische, grundsätzliche Kritik an der "Wegwerfgesellschaft", die eine Ernährung unabhängig vom kapitalistischen Konsum ermöglichen soll. Hierzu werden aus dem Müll von Supermärkten noch verwertbare Lebensmittel gesammelt und oft in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten verteilt und so die Prinzipien der Volxküchen, Umsonstläden und Tauschringen ausgeweitet; teilweise in Verbindung mit dem Konzept der "Sharing Economy".
Vegetarismus, Veganismus und Freeganismus kombinieren die persönliche Ernährungsweise mit gesellschaftspolitischer Kritik, adressieren dabei ein junges Publikum und stellen den Anspruch der kollektiven Heilung durch (vegane) Ernährung aus der Mülltonne. Die umweltgerechte, nachhaltige, regionale Ernährungsweise findet bei den derzeitigen Trendsettern vegetarischer/veganer oder freeganer Ernährung jedoch kaum oder gar keine Beachtung - ähnlich wie beim Mainstream der Konsument. Hier liegt noch ein großes Potential.
Preisentwicklungen bei Lebensmitteln
Wie zentral die Frage der Lebensmittelpreise ist, zeigt sich daran, dass z.B. die Revolutionswelle des Arabischen Frühlings in engem Zusammenhang mit einem gestiegenen Brotpreis in den jeweiligen Ländern stand. Dabei sind gerade in den westlichen Märkten vor allem die Verpackungen und das Marketing zentrale Faktoren für die Lebensmittelpreise in Supermärkten, während die Erzeugerpreise der Lebensmittel konstant niedrig bleiben. Ein wichtiger Aspekt ist hier, dass die Konsumenten makellose Lebensmittel in den Regalen erwarten. Deshalb werden in den Supermärkten ein Drittel der frischen Lebensmittel weggeworfen oder verderben - was indirekt in die Preise einfließt. Direkt beim regionalen Erzeuger zu kaufen, ist meist billiger - jedoch braucht man dafür auch einen höheren Aufwand an Zeit, die viele in der heute immer schneller werdenden Zeit nicht mehr haben.
Ein gesundes und souveränes Ernährungsverhalten kostet also weniger Geld aber auch mehr Zeit. Es besteht für die Zukunft die Notwendigkeit für Ideen, um den Zeitverbrauch für dieses Verhalten zu reduzieren und es breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.
Lesetipps:
Michael Pollan: Cooked. A natural history of transformation. Penguin Press HC 2013.
Michael Pollan: Food Rules. An eater"s manifesto. Penguin Books 2009.
Website: michaelpollan.com/books
Joseph Collins u.a.: World Hunger. Twelve Myths. Grove Press 1998.
Zur Person
Im Jahr 2000 habilitierte Martina Kaller-Dietrich mit einer ernährungs-geschichtlichen Arbeit mit dem Titel "Macht über Mägen. Essen als eigenmächtiges Tätigsein von Frauen in einem mexikanischen Dorf". Für die Ausstellung "Essen unterwegs. Eine Ausstellung zu Mobilität und Wandel" im Jahr 2011, im Schlossmuseum Linz zeichnete sie als Kuratorin verantwortlich. Seit dem Jahr 1995 wendet sich Martina Kaller-Dietrich verstärkt Fragen von Nahrung, Geschlechter- und Machtverhältnissen in historischer Perspektive zu.
Fachtagung ESSEN:TIELL
Workshop Neue Essgewohnheiten und Trends