Die Moral auf dem Teller

Work­shop-Lei­t­erin Mar­ti­na Kaller-Diet­rich ver­wies gle­ich am Beginn der Diskus­sio­nen darauf, dass die meis­ten Ernährungstrends immer wieder aus den USA nach Europa kom­men. Ein Blick über den großen Teich ist also für Europäer wie ein Blick in die nahe Zukun­ft. Ein Grund dafür kön­nte im höheren Grad der Indi­vid­u­al­isierung in der US-Gesellschaft sowie am Überange­bot an Möglichkeit­en in den USA liegen. Da die USA, bed­ingt durch den zweit­en Weltkrieg, hohe land­wirtschaftliche Über­schüsse im Ver­gle­ich zu Europa hat­ten, kon­nten sie ihre Lebens­mit­tel nach Europa exportieren und damit auch die Ernährungs­ge­wohn­heit­en mit­bee­in­flussen. Die auch in den Jahrzehn­ten nach dem Krieg andauernde hohe land­wirtschaftliche Pro­duk­tion in den USA ermöglichte kostengün­stige Lebens­mit­tel­ex­porte in alle Teile der Welt (auch in die UdSSR).  Durch diesen Export von US-amerikanis­chen Lebens­mit­teln wur­den viele weltweite Trends von den USA aus­ge­hend begründet.

Dabei ist die Ver­sorgung mit aus­re­ichend Lebens­mit­teln auf dem Globus heute kein land­wirtschaftlich­es Prob­lem mehr, son­dern eine Frage der Verteilungs­gerechtigkeit. Bere­its im 18. Jahrhun­dert stellte der englis­che Pas­tor Thomas Malthus die These auf, dass die Bevölkerung immer expo­nen­tiell anwachse, die Nahrungsmit­tel­pro­duk­tion jedoch nur lin­ear. Durch die Lücke zwis­chen diesen Wach­s­tum­srat­en entste­he eine Hunger­prob­lematik die — nach Malthus — nur durch Reduk­tion der Bevölkerung mit­tels Hunger­snöten, Kriegen usw. gelöst wer­den könne. Diese These wird zwar immer noch oft in Diskus­sio­nen vertreten, hat sich aber als völ­lig falsch her­aus­gestellt. Die glob­ale Bevölkerungsen­twick­lung in den let­zten 200 Jahren hat gezeigt, dass es dur­chaus möglich ist, dass die land­wirtschaftliche Pro­duk­tion mit dem Bevölkerungswach­s­tum mithal­ten kann. Aus­re­ichende Lebens­mit­telver­sorgung ist, wie erwäh­nt, mehr eine Frage der Verteilung und Lagerung, als der Produktion.

Deshalb sitzt die Moral auch immer neben uns am Tisch, wenn wir uns zur Mahlzeit nieder­lassen. Und viele Ernährungstrends der Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und der Zukun­ft weisen eine starke moralis­che Kom­po­nente auf.

Erwartete Trends und wichtige Aspek­te in den Ernährungsgewohnheiten:

Gesundheit als wichtiger Ernährungstrend

Die Erken­nt­nis, dass eine gesunde Lebens­führung, neben anderen Fak­toren, stark von der richti­gen Ernährungsweise abhängt, wird in Zukun­ft immer dom­i­nan­ter wer­den. Hier wird ein Haup­tau­gen­merk auf die Zuck­er­prob­lematik gestellt wer­den. Zuck­er, und nicht mehr Fett, ist heute der kri­tis­chste Bestandteil unser­er Lebens­mit­tel. Da Fett mit­tler­weile weitest­ge­hend ver­mieden wird, muss der Zuck­er ein­er­seits als Geschmack­sträger die Funk­tion des Fetts übernehmen und ander­er­seits als Kon­servierungsmit­tel für die möglichst lange Halt­barkeit von Lebens­mit­tel garantieren.

„Super­märk­te sind wie Irre­nanstal­ten: kein­er der Mitar­beit­er oder Insassen hat etwas zu reden, zu bes­tim­men oder eine Ahnung, wohin die Entwick­lung geht.” – Mar­ti­na Kaller-Dietrich

Ernährungs-Bildung essentiell für Zukunft

Um den ide­alen per­sön­lichen Umgang mit Ernährung find­en zu kön­nen, bedarf es aus­re­ichen­der Infor­ma­tion und Bil­dung. Da der Trend zu mehr Gesund­heit dom­i­nant wer­den wird, wird dementsprechend auch der Bedarf nach adäquater Infor­ma­tion sowie deren Ver­mit­tlung zen­tral wer­den. Während in Öster­re­ich etwa Unter­richt­sein­heit­en zur Hauswirtschaft (in deren Kon­text oft auch gesunde Ernährung näher gebracht wurde) ver­mehrt abge­baut wer­den, ist in eini­gen skan­di­navis­chen Län­dern das Fach Ernährungs­bil­dung das viert-wichtig­ste Fach in den Schulen. Vielle­icht wird es eine Auf­gabe der Land­wirte wer­den, Infor­ma­tio­nen über eine gesunde Ernährung zusät­zlich zu ihren land­wirtschaftlichen Pro­duk­ten anzubieten.

Gastrosexualismus als Trend der Wohlstandsgesellschaft

Vor allem Män­ner erobern zunehmend die pri­vate Küche zu feier­lichen Anlässen, um — unter hohem Aufwand — Mahlzeit­en zuzu­bere­it­en. Die alltägliche Zubere­itung von Gericht­en über­lassen die „Gas­tro­sex­uellen” jedoch üblicher­weise anderen (Frauen). In diesen Kon­text sind auch die von männlichen Köchen dominierten TV-Koch-Shows einzuord­nen. Sie stellen sozusagen das öffentliche Gesicht dieses pri­vat­en Trends dar. Doch warum dieser Trend zum insze­nierten Kochen bei Män­nern? Aus Pres­tige­grün­den! Die Zubere­itung ein­er aufwändi­gen und aus­ge­fal­l­enen kuli­nar­ischen Köstlichkeit ist für den Koch mit Lob und sozialem Pres­tige ver­bun­den — deshalb tendieren Män­ner dazu, bei diesen semi-pri­vat­en Anlässen groß aufzukochen.

„Das erste, was ein Mann in ein­er Küche kauft, ist ein unglaublich teures und tolles Messer­set.” – Mar­ti­na Kaller-Dietrich

Trend zur fleischlosen Kost — Vegetarismus und Veganismus

Bere­its im 19. Jahrhun­dert ent­stand ein Trend unter wohlhaben­den Per­so­n­en, der eine bewusstere Lebens­führung und Ernährung gegen die Fehlen­twick­lun­gen der indus­triellen Pro­duk­tion propagierte. Diese Leben­sre­form­be­we­gung war Grund­lage eines gesellschaft­spoli­tisch motivierten Veg­e­taris­mus, der seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhun­derts zunehmend Anhänger find­et und derzeit im Phänomen des Veg­an­is­mus gipfelt. Begrün­det wurde dieses Prinzip, wonach keine Pro­duk­te, die von Tieren stam­men, in der Ernährung oder Klei­dung ver­wen­det wer­den dür­fen, im Jahr 1944 von dem Briten Don­ald Wat­son (1910–2005). Mehr Details dazu find­en sich in der Präsen­ta­tion von Mar­ti­na Kaller-Dietrich.

Freeganismus als Reaktion auf die Wegwerfgesellschaft

Aus dem Müll leben. Antikap­i­tal­is­tis­che, grund­sät­zliche Kri­tik an der „Weg­w­er­fge­sellschaft”, die eine Ernährung unab­hängig vom kap­i­tal­is­tis­chen Kon­sum ermöglichen soll. Hierzu wer­den aus dem Müll von Super­märk­ten noch ver­w­ert­bare Lebens­mit­tel gesam­melt und oft in ein­er Gemein­schaft von Gle­ich­gesin­nten verteilt und so die Prinzip­i­en der Volxküchen, Umson­stlä­den und Tauschrin­gen aus­geweit­et; teil­weise in Verbindung mit dem Konzept der „Shar­ing Economy”.

Veg­e­taris­mus, Veg­an­is­mus und Free­gan­is­mus kom­binieren die per­sön­liche Ernährungsweise mit gesellschaft­spoli­tis­ch­er Kri­tik, adressieren dabei ein junges Pub­likum und stellen den Anspruch der kollek­tiv­en Heilung durch (veg­ane) Ernährung aus der Müll­tonne. Die umwelt­gerechte, nach­haltige, regionale Ernährungsweise find­et bei den derzeit­i­gen Trend­set­tern vegetarischer/veganer oder free­gan­er Ernährung jedoch kaum oder gar keine Beach­tung — ähn­lich wie beim Main­stream der Kon­sument. Hier liegt noch ein großes Potential.

Preisentwicklungen bei Lebensmitteln

Wie zen­tral die Frage der Lebens­mit­tel­preise ist, zeigt sich daran, dass z.B. die Rev­o­lu­tion­swelle des Ara­bis­chen Früh­lings in engem Zusam­men­hang mit einem gestiege­nen Brot­preis in den jew­eili­gen Län­dern stand. Dabei sind ger­ade in den west­lichen Märk­ten vor allem die Ver­pack­un­gen und das Mar­ket­ing zen­trale Fak­toren für die Lebens­mit­tel­preise in Super­märk­ten, während die Erzeuger­preise der Lebens­mit­tel kon­stant niedrig bleiben. Ein wichtiger Aspekt ist hier, dass die Kon­sumenten makel­lose Lebens­mit­tel in den Regalen erwarten. Deshalb wer­den in den Super­märk­ten ein Drit­tel der frischen Lebens­mit­tel wegge­wor­fen oder verder­ben — was indi­rekt in die Preise ein­fließt. Direkt beim regionalen Erzeuger zu kaufen, ist meist bil­liger — jedoch braucht man dafür auch einen höheren Aufwand an Zeit, die viele in der heute immer schneller wer­den­den Zeit nicht mehr haben.

Ein gesun­des und sou­veränes Ernährungsver­hal­ten kostet also weniger Geld aber auch mehr Zeit. Es beste­ht für die Zukun­ft die Notwendigkeit für Ideen, um den Zeitver­brauch für dieses Ver­hal­ten zu reduzieren und es bre­it­eren Bevölkerungss­chicht­en zugänglich zu machen.

Lesetipps:

Michael Pol­lan: Cooked. A nat­ur­al his­to­ry of trans­for­ma­tion. Pen­guin Press HC 2013.

Michael Pol­lan: Food Rules. An eater„s man­i­festo. Pen­guin Books 2009.

Web­site: michaelpollan.com/books

Joseph Collins u.a.: World Hunger. Twelve Myths. Grove Press 1998.

Zur Person

Im Jahr 2000 habil­i­tierte Mar­ti­na Kaller-Diet­rich mit ein­er ernährungs-geschichtlichen Arbeit mit dem Titel „Macht über Mägen. Essen als eigen­mächtiges Tätig­sein von Frauen in einem mexikanis­chen Dorf”. Für die Ausstel­lung „Essen unter­wegs. Eine Ausstel­lung zu Mobil­ität und Wan­del” im Jahr 2011, im Schloss­mu­se­um Linz zeich­nete sie als Kura­torin ver­ant­wortlich. Seit dem Jahr 1995 wen­det sich Mar­ti­na Kaller-Diet­rich ver­stärkt Fra­gen von Nahrung, Geschlechter- und Machtver­hält­nis­sen in his­torisch­er Per­spek­tive zu.