Wir leben in einer Welt mit Grenzen. Mehr noch, wir leben in einer Welt, die von Grenzen definiert wird. Grenzen sind dafür verantwortlich, wie wir leben, wie wir denken und wie wir handeln. Es gibt physische Grenzen, die unsere jeweiligen Staaten umgeben, und es gibt gedachte Grenzen in unseren Köpfen, die uns als Menschen definieren. Was das Thema Grenzen so faszinierend macht, ist, dass wir sie brauchen. Wir brauchen sie in der Außenwelt und wir brauchen sie in uns selbst. Aber manchmal müssen wir diese Grenzen überqueren. Wir müssen den Rubikon überschreiten.
Ein perfektes Beispiel für jemanden, der seine Komfortzone verlassen hat, ist der berühmte Extrembergsteiger Peter Habeler. Den Mount Everest ohne die Hilfe von tragbarem, künstlichem Sauerstoff zu besteigen, mag einem wahnsinnig erscheinen — geradezu eine verrückte und unerreichbare Mission. Habeler hat alles riskiert und war erfolgreich. Indem er seine Komfortzone verließ, gelang es ihm nicht nur, Alpingeschichte zu schreiben, sondern auch als Mensch zu wachsen.
Daraus kann man eine Lehre ziehen: Jene Grenzen zu durchbrechen, die bis dahin als unüberwindbar galten, ist genau, was jemanden zum Anführer macht. Führungskräfte sind Menschen, die über genau die Grenzen hinausgehen, die andere akzeptieren — und im Zuge dessen zeigen, dass wir alle mehr erreichen können, als wir glauben. Führungspersönlichkeiten sind Menschen, die andere Menschen motivieren und inspirieren. Führungskräfte sind Menschen, die anderen dabei helfen. ihre eigene Komfortzone zu verlassen.
Eine Möglichkeit, Grenzen zu überwinden, ist es, extreme Ereignisse zu begrüßen — oder sogar zu veranlassen. Ein extremes Ereignis kann ein Moment des politischen Aufstands sein, der den Status quo destabilisiert; es kann eine Naturkatastrophe sein, die uns zeigt, wie unberechenbar die Natur ist — und wie sehr wir der Gnade der Natur ausgeliefert sind.
Oder aber es kann etwas sein, das wir uns selbst auferlegen. Was bedeutet es, sich aus der Komfortzone zu pushen? Es ist völlig normal für die meisten von uns, eine Lebensweise zu finden, die uns das Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens gibt. Gleichzeitig gibt es jedoch eine Kehrseite des komfortablen und bequemen Lebens: Wir hören auf zu wachsen, wir hören auf zu lernen, und wir hören auf, uns an unserem bestmöglichen Selbst zu messen.
John Casti, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Komplexitätswissenschaften, hat den Begriff der X‑Events geprägt. Solche X‑Events sind rar, passieren plötzlich und verursachen einen großen Schaden.
Diese extremen Ereignisse werfen uns aus unserer Komfortzone. Plötzlich wird das, was einst undenkbar war, zur neuen Normalität. Die alte Realität, die uns vertraut geworden war, verschwindet und wird ersetzt durch eine völlig neue Version der Realität: Die Berliner Mauer fällt, das Weltwirtschaftsklima erleidet eine Finanzkrise, eine neue Technologie verändert dauerhaft, wie wir arbeiten und kommunizieren. Es geht nicht darum, dass X‑Events gut oder schlecht sind. Der Punkt ist einfach, dass sie passieren und wir uns alle an die neue Realität anpassen müssen.
Die Idee der X‑Events wirft einige wichtige Fragen für Oberösterreich auf:
Wie können wir besser darin werden, eine „soziale Resilienz” als Teil dessen zu entwickeln, wie wir denken und handeln und auf Veränderungen reagieren? Welche Arten von Instrumenten oder Konversationen würden Oberösterreich anpassungsfähiger an Schocks und plötzliche Veränderungen machen, von denen wir wissen, dass sie kommen werden — ob wir bereit sind oder nicht. Ist es möglich, X‑Events besser zu analysieren oder sogar vorherzusagen, bevor sie passieren?
Würden mehr Gespräche und Diskussionen über die X‑Events der Vergangenheit und mögliche X‑Events der Zukunft eine größere Kapazität für das Verständnis von und die Reaktion auf X‑Events schaffen? Und gibt es X‑Events, die wir eigentlich zu fördern versuchen sollten? Gibt es soziale, wirtschaftliche oder politische Veränderungen, die derzeit „undenkbar” sind? Und wenn das der Fall ist — welche davon würden sich für Oberösterreich als förderlich erweisen? Wären wir in der Lage, unsere Denkmuster aufzubrechen und sie uns vorzustellen? Werden wir vielleicht in der Lage sein, Wege zu finden, sie zu veranlassen? Oder sind wir zu komfortabel geworden, während wir innerhalb der Grenzen des Status quo gelebt haben? Zugegeben, das sind alles ziemlich schwierige Fragen. Aber im Interesse unserer Zukunft werden wir sie uns immer und immer wieder stellen müssen, bis wir die richtigen Antworten gefunden haben.
Es gibt noch weitere Fragen, denen sich ACADEMIA SUPERIOR während des SURPRISE FACTORS SYMPOSIUMS stellen musste und auch in Zukunft wird stellen müssen. All das sind Fragen, die nicht einfach zu beantworten sind. Doch ich glaube fest daran, dass wir uns mit ihnen befassen müssen, egal was kommt. Denn die Antworten, die wir suchen, werden uns dabei helfen, ein besseres Morgen zu gestalten. Wie können wir uns selbst und unsere jungen Menschen dazu inspirieren, Aufgaben zu übernehmen und neue Möglichkeiten vorzustellen, die neue Standards für Exzellenz setzen? Ob man eine Athletin ist, ein Entrepreneur, eine Business-Innovatorin, ein Künstler oder eine Studentin:
Bereitwillig und aufgeschlossen die Komfortzone zu verlassen wird einem die fantastische Möglichkeit eröffnen, große Belohnungen zu ernten. Manchmal sind es die kleinen Schritte ins Ungewisse, die am schwierigsten sind. Doch man muss ja nicht gleich am ersten Tag den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske besteigen …
Zur Person
Alan Webber ist US-amerikanischer Wirtschaftsjournalist. Mitgründer des erfolgreichsten US Business Magazins „Fast Company” und ehemaliger Herausgeber der Harvard Business Review. Er ist Autor des Bestsellers „Rules of Thumb” und ACADEMIA SUPERIOR Beiratsmitglied.