Das zentrale Thema des diesjährigen Symposiums „Grenzerfahrungen” kann alle Lebensbereiche betreffen. Die Welt lebt heute in einer nie dagewesenen Periode des globalen Friedens. Die Bedrohungen in der heutigen Zeit sind in erster Linie nicht Kriege, sondern Terroranschläge, Klimawandel, politische Umstürze, Energieengpässe, um nur einige zu nennen. Wie geht man mit Krisen und Grenzerfahrungen um, und welche Strategien kann man zu deren Bewältigung anwenden?
Konkret wurden die Fragen aus den Blickwinkeln der Mathematik, des Extremsports, der Politik und der Abbildung von Zukunftsszenarien in Filmen und Literatur diskutiert.
Eines der spannendsten Themen ist die Frage nach der Vorhersagbarkeit von krisenhaften Ereignissen. John Casti beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Modellierung von sogenannten X‑Events. X‑Events sind überraschend eintretende Ereignisse, die selten auftreten, aber eine große Wirkung entfalten können. Sie wirken destruktiv auf den Status quo und erzwingen einen Wandel. Sie sind Wegbereiter des Fortschritts.
Die Vorhersage von X‑Events ist nur in einem sehr beschränkten Ausmaß möglich. Prognosen könnten unser Verständnis von X‑Events jedoch entscheidend vorantreiben, sind aber deshalb so schwierig, weil das gesamte Umfeld, in dem derartige X‑Events ablaufen, sich ständig verändert. Als Beispiele wurden in erster Linie Ereignisse wie politische Revolutionen, Finanzkrisen, terroristische Anschläge mit globaler Wirkung angesprochen. Die Diskussion fokussierte sich auf drei wesentliche Aspekte: Wie überlebt man solche X‑Events, wie reagiert man darauf, und wie kann man die Gesellschaft darauf generell vorbereiten?
Eine Gesellschaft muss ausreichend vorbereitet und bereit sein, nach dem X- Event große Risiken einzugehen, um sich für die Zukunft neu aufstellen zu können. Ein wesentlicher Aspekt für die Bewältigung eines Krisenfalles ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen und die Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse. Dabei haben kleinere Strukturen, die überschaubar sind, deutliche Vorteile.
Das Erleben von Grenzsituationen und der Umgang damit auf einer persönlichen Ebene wurden eindrucksvoll am Beispiel des Extrembergsteigers Peter Habeler diskutiert. Die Prinzipien und Grundsätze, die bei diesem und jedem Extremsport auftreten, lassen sich auch auf viele Bereiche der Berufswelt ebenso wie Wirtschaft oder Politik übertragen.
Ein wesentlicher Aspekt, um bei Grenzerfahrungen dieser Art eine Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit zu ermöglichen, ist das Erkennen der persönlichen körperlichen und psychischen Grenzen.
Dabei wurde der Begriff der Komfortzone verwendet, die überwunden werden muss, um neue Erfahrungen zuzulassen und zu erleben. Ein hohes Maß an Selbstvertrauen ist in Grenzerfahrungen nötig, um die Verantwortung für die eigene Entscheidung tragen zu können. Nur dann kann man sich neuen Grenzen annähern. Ein ebenfalls wichtiger Faktor ist das Erkennen dieser Grenzen und die Bereitschaft, wenn das Risiko zu groß wird, umkehren bzw. aufgeben zu können. Es wurde insbesondere die mangelnde Risikofreude der Politiker, aber auch der Führungskräfte in vielen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung diskutiert. Immer weniger Menschen sind bereit, die Konsequenzen von mutigen Vorgangsweisen zu tragen.
Kann man die Menschen auf drohende Krisen vorbereiten, und welche Mechanismen existieren in der Gesellschaft dafür? Wie antizipiert die breite Bevölkerung die verschiedenen Szenarien über die Zukunft? Dies lässt sich an post-apokalyptischen Szenarien, wie sie immer öfter in Büchern und Filmen zu sehen sind, ablesen. Eva Horn hat aufgezeigt, dass Fiktionen über konkrete Katastrophen- oder Krisenszenarien es möglich machen, die Folgen abzuschätzen, wenn ein derartiges Szenario real auftreten würde. Fiktionen können auch Instrumente sein, um ethische Konflikte zu diskutieren: Wie weit ist die Gesellschaft bereit, während einer Katastrophe ethische Prinzipien bei der Hilfeleistung anzuwenden? Über diese Fiktionen lassen sich daher, wenn gewollt, Fragen nach unseren Werten diskutieren und damit Strategien für die größten Überlebenschancen entwickeln.
In vielen Katastrophen-Fiktionen werden die schlimmsten Befürchtungen ihrer jeweiligen Epoche dargestellt. Es gibt aber insbesondere beiComputerspielen einen immer stärker werdenden positiven Trend zu Kooperationen zwischen den Spielern. Auch fiktionale Helden ermöglichen Kooperation anstelle von Egoismus, d.h. sie zeigen, wie wir in einer Situation, in der Egoismus die erste Intuition wäre, kooperieren können.
Das Krisenhafte in der europäischen Politik wurde mit Karel Schwarzenberg diskutiert. Das wesentliche Krisensymptom zeigt sich durch den Verfall der großen demokratischen Parteien, die vor etwa 100 Jahren entstanden sind. Die sozialdemokratischen und christlich-sozialen Parteien schrumpfen in allen Ländern und neue teils nationalistische, teils breit populistische Parteien kommen auf. Die wesentliche Schwäche der „alten” Parteien ist der Verlust an Grundsätzen und Ideen. Sie wissen nicht mehr, wofür sie stehen. Die Parteien, wie die Politiker, sind austauschbar geworden. Dazu kommt eine Krise der „Idee” Europa. Die Bürokratie in Brüssel hat sich immer weiter von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt, was zu einem sogenannten „Europafrust” führt.
Besonders in krisenhaften Situationen, wie sie gerade in der Ukraine auftreten, ist ein hohes Vertrauen in die Institutionen und Strukturen notwendig, aber leider nicht vorhanden. Europa scheint ohne gemeinsame Außenpolitik und gemeinsame Verteidigungs-Strategie vor sich hinzutaumeln.
In dieser Zeit der europäischen Schwäche und angesichts des Fehlens von echten Führungspersönlichkeiten besteht die Gefahr, dass der Ruf nach einer starken „Persönlichkeit” zunimmt. Die Zahl der Wählerinnen und Wähler für die neuen Populisten nimmt in den letzten Jahren ständig zu. Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten ausschließlich auf die Ankurbelung seiner Wirtschaft konzentriert und einen in der 45 Weltgeschichte beispiellosen Wohlstand für die Mehrheit seiner Bewohnerinnen und Bewohner erreicht.
Trotz des Wohlstandes fällt Europa in seiner Innovationskraft zurück, weil es zu wenig Geld in seine Schulen und Universitäten investiert. Die Folge ist, dass Europa nun bereits zum „Patente-Importeur” geworden ist. Es ist eine grundlegende Gefahr für die Zukunft Europas, wenn zur strategischen Schwäche auch noch eine Innovationsschwäche dazukommt. Dann geht auch die gute wirtschaftliche Position verloren. Europa darf nicht insgesamt eine Tourismushalbinsel von Asien werden.
Die Diskussion am Sonntag stellte einen Übergang von einer wissenschaftlich getriebenen Diskussion hin zur politischen Praxis, gemeinsam mit Landeshauptmann Josef Pühringer, ACADEMIA SUPERIOR Obmann Michael Strugl, Mitgliedern der YOUNG ACADEMIA und dem wissenschaftlichen Beirat, dar. Dabei wurden insbesondere von den Studierenden kritische Zukunftsthemen zur Sprache gebracht.
Angesprochene Themen betrafen die Überalterung, die Finanzierbarkeit des Sozialstaates, die weitere Entwicklung einer umweltfreundlichen Mobilität in den Regionen, die Möglichkeiten und Risiken der neuen Technologien, insbesondere der Biotechnologien, und die Weiterentwicklung der Demokratie, vor allem mehr direkte Demokratie.
Ein besonderes Anliegen der jungen Menschen ist die Resilienz der Gesellschaft. Dabei ist ein wesentlicher Aspekt der jeweilige Zustand des Bildungs- und Forschungswesens.
Zur Person
Erich Gornik ist Professor für Festkörperelektronik an der Technischen Universität Wien, Wittgensteinpreisträger des Jahres 1997 und wurde im Jahr 1995 zum Fellow der American Physical Society ernannt.