Carl Djerassi war geladener Experte bei unserem SURPRISE FACTORS SYMPOSIUM 2012 zum Thema „Das neue Alt”. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen für seine Forschungstätigkeiten wurde er unter anderem mit 33 Ehrendoktoraten geehrt. Als Ko-Erfinder der Pille bekannt, revolutionierte er die Reproduktionsmedizin und widmete sich sein Leben lang der Trennung von Sex und Fortpflanzung. Er sah sich selbst als „männlichen Feministen”. Die Bezeichnung „Anti-Baby-Pille” mochte er ganz und gar nicht — zu negativ sei hier die Implikation. Vergangenes Wochenende verstarb er 91-jährig an einem Krebsleiden.
Im Gedenken an den beeindruckenden Menschen Carl Djerassi, den wir selbst im hohen Alter als kreativ, engagiert, lebensfroh und zukunftsorientiert kennenlernen durften, erinnern wir uns an die Gespräche in Gmunden.
„In Zukunft werden Kinder unter dem Mikroskop entstehen.” – Carl Djerassi
Nach der Pension eine neue Berufung
Vor mittlerweile 60 Jahren arbeitete der Chemiker Djerassi an der „Pille”, eine der bahnbrechendsten und gesellschaftsverändernden Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile ist der fast 90-Jährige Stanford-Professor auch als Schriftsteller tätig, schreibt Theaterstücke und zuletzt auch Lyrik. So argumentiert er auch, dass sein berufliches Alter in dieser zweiten beruflichen Karriere gerade einmal Mitte Vierzig ist und empfiehlt allen Leuten, in der Pension einen völlig andere Beruf aufzunehmen, um geistig fit zu bleiben.
Keine Einmischung in Fortpflanzungsmedizin
Carl Djerassi rät jungen Frauen, in einem jungen Alter Eizellen zu entnehmen und auf — idealerweise verschiedenen — Banken einfrieren zu lassen („sollte eine Pleite gehen”), um sie dann bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt zu verwenden. Auf den Einwand Hengstschlägers, dass dies in Österreich gesetzlich nicht möglich sei, teilt Djerassi seine Ansicht, dass Österreich eines der primitivsten Länder in dieser Hinsicht ist, denn in diesem Bereich „haben weder Politik noch Kirche mitzumischen.”
Intelligente Immigrationspolitik
Auch von der österreichsichen Immigrationspolitik hält Djerassie wenig. „Immigrationspolitik, ist die neue Zukunft”, so der Co-Erfinder der Pille. Eine intelligente Immigrationspolitik ist für Österreich von größter Wichtigkeit um einem nationalen Selbstmord zu entkommen. Migranten müssen Vorteile sehen um in ein Land zu kommen und um zu bleiben.
Aussterbende Nationen
Djerassi unterteilt die Welt in geriatrische und pädiatrische Länder, also Länder mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung und Länder mit hohen Geburtenraten. Die demographische Entwicklung eines Landes hängt allerdings nicht nur von der Regulation der Geburten und der Immigration ab, betont Markus Hengstschläger. Unsere Zukunft kann durch einen Generationendialog, aktive Immigrationspolitik, Bildung, Kooperationen, durch Familienpolitik, ja auch durch zeitgemäßes Design auf einen würdigen Weg geführt werden.
Pädiatrische und geriatrische Länder
In geriatrischen Ländern (z.B. Japan, Italien, Deutschland) ist der Anteil der älteren Bevölkerung höher als der Teil der jüngeren Bevölkerung; in pädiatrischen Ländern (meist Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien) verhält es sich genau umgekehrt. Der Wendepunkt, also der Punkt ab dem ein Land zu einem geriatrischen Land zählt, bezeichnet man als Demographischen Übergang. Solche Entwicklungen passieren über Generationen hinweg und können nicht in einigen wenigen Jahren einfach ein- und ausgeschaltet werden. „Eine Bevölkerungsexplosion kann zum Beispiel nicht einfach gestoppt werden”, so der Chemiker.
„Die Welt unterteilt sich zunehmend in geriatrische und pädiatrische Länder.”
Herausforderung über Nacht begegnen
Wir haben immer mehr und mehr ältere Menschen, weil sie gesünder sind und folglich länger leben. Das hat erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen, speziell in Bezug auf das Gesundheitssystem. „Die medizinische Fürsorge ist für den Durchschnitt in Österreich nach wie vor akzeptabel, kann aber in dieser Art und Weise nicht fortgesetzt werden”, bemerkt Djerassi und wundert sich: Im Hinblick auf die Medizin war Österreich, zur Zeit des Jugendstils, eines der wichtigsten Länder weltweit. Die Universität Wien war die Schule der Medizin, oder gewiss eine der besten. Das Wiener Allgemeine Krankenhaus war zu dieser Zeit das größte Spital weltweit. Heutzutage liegt der Fokus der medizinischen Fürsorge in Österreich jedoch auf der älteren Generation und der kurativer Medizin. Sowohl in den geriatrischen, als auch in den pädiatrischen Ländern ist es unverzichtbar, der präventiven Medizin mehr Beachtung zu schenken. „Das Verhalten in diesem Land ist diesbezüglich beschämend und die Debatte über das Rauchen ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Da kann leicht etwas vollzogen werden”, so Djerassi.
Wege für Österreich: Immigration und Geburtenrate erhöhen
Um das Bevölkerungswachstum zu halten und um sich zu reproduzieren, bedarf es 2,1 Kinder pro Familie. In Europa haben lediglich Familien in Albanien, Malta und in skandinavischen Ländern über 2 Kinder. „Wenn sich Österreich nicht schnell entscheidet begeht es nationalen Selbstmord über einen Zeitraum der nächsten 100 Jahre”, stellt Djerassi provokant in den Raum. Seine Ansätze um dieser Entwicklung gegenzusteuern sind: die Geburtenrate erhöhen und Immigration forcieren.
Immigration forcieren um die Bevölkerungsgröße zu halten
Ein möglicher Weg die Bevölkerungsgröße in Österreich zu halten, ist Immigration, so Djerassi. Noch bleibt die Bevölkerungszahl Österreichs stabil, weil Menschen nach Österreich emigrieren. Für Djerassi stellt sich jedoch die Frage, wie die Menschen in das Land kommen und wer sie sind?
Erhöhung der Geburtenrate durch optimale Hard- und Software
Der zweite Weg Djerassis, die Bevölkerungszahlt in Österreich zu halten, ist die Erhöhung der Geburtenrate. Und dazu bedarf es einer „optimalen Hard- und Software”, sagt der Chemiker. Als Hardware bezeichnet Djerassi sämtliche medizinische Methoden der Geburtenkontrolle (Verhütung; Abtreibung). Zur Software zählt er gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie die Politik, die Wirtschaft, die Religion und, für ihn am bedeutsamsten, die kulturelle und wirtschaftliche Stellung der Frau. „Um die Probleme des Geburtenrückgangs zu lösen, braucht man keine neue Hardware, die Ursache des Problems liegt bei der Software und die Software Probleme in Europa und in Österreich sind enorm; in diesem Fall haben wir es mit einem Software Problem der geriatrischen Gesellschaft zu tun”, meint Djerassi. In der geriatrischen Welt war das Leitmotiv der letzten 50 Jahre Reproduktion und Verhütung; heute ist das Leitmotiv Empfängnis. Warum wir so schnell so kleine Familien haben, ist ein Phänomen der letzten 50 Jahre.
Länderbeispiele: Hard- und Softwareprobleme
Carl Djerassi nennt im Laufe seiner Ausführungen einige Länder, die sich aufgrund so genannter Hard- und Softwareprobleme zu pädiatrischen oder geriatrischen Gesellschaften entwickelten:
„Ein interessantes Beispiel für eine niedrige bzw. sinkende Geburtenrate ist die Sowjetunion”, so Djerassi. Software Probleme (schreckliche Wohnverhältnisse; sehr geringe Empfängnisverhütung; Zahl der legalen Abtreibungen weit höher als Geburtenzahl; hohe Anzahl von Frauen im Arbeitsmarkt) waren die Ursachen für die heutigen demographischen Verhältnisse. In China wurde das Experiment Geburtenkontrolle in einem sehr großen, nicht wiederholbaren Rahmen praktiziert — die Ein Kind Politik. Djerassi bemerkt, dass der Wirkungsgrad dieser Politik sehr dramatisch war und ist; China bewegt sich nun in die Kategorie der geriatrischen Länder. In Indien scheiterte eine bereits angedachte, „sehr intelligente” anti-natale Politik. Die Bevölkerung ist explodiert und sie zählt heute zu den pädiatrischen Gesellschaften. „In pädiatrischen Ländern, wie Nigeria oder Pakistan, wäre eine Geburtenkontrolle unerlässlich”, so Djerassi. Die Bevölkerungszahl dieser Länder wird explodieren, was immense Herausforderungen für das jeweilige Land mit sich bringt.
Ansätze in der Hardware
„Wir müssen unseren Fokus auf Frauen und Kinder richten”, fordert Djerassi. Mehr und mehr Frauen arbeiten heute, sie bewegen sich immer weiter in höhere Positionen, auch in männerdominierte Disziplinen. Das verschiebt die Reproduktion nach hinten. „Wir nennen 40jährige Mütter, alte Mütter. Nie würden wir das bei einem Vater machen”, sagt Djerassi und bemerkt, dass sich das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau zu ändern beginnt, und zwar für immer. Der interessanteste Teil für Djerassi in diesem Bereich, welcher mehr als alles andere bewegt hat, ist In-vitro-Fertilisation. Etwa zwei bis vier Millionen Personen, die man durch künstliche Befruchtung zeugte, wurden weltweit geboren. „Heutzutage kann man Geschlechtsverkehr ohne reproduktive Konsequenzen und Reproduktion ohne Geschlechtsverkehr haben”, so der Chemiker. In ungespitzter Manier meint Djerassi „Sex passiert im Bett und Reproduktion unter dem Mikroskop.” Die Menschen sind darüber schockiert, sagt Djerassi, speziell in konservativen Ländern wie Deutschland, Österreich und Italien, wo man nach wie vor den Akt der Reproduktion gerne romantisiert. „Aber das soll nur die individuelle Frau und (hoffentlich) auch ihren Partner etwas angehen, aber nicht die Regierung, die Kirchen, oder andere Personen; sie können im Endeffekt nichts kontrollieren”, so Carl Djerassi.
Hardware: Pille und In-Vitro Fertilisation
„In vorwiegend katholischen Ländern wie Österreich ist die populärste Methode der Geburtenkontrolle die Pille”, meint Djerassi und bringt als alternativen Vorschlag das Entnehmen und Aufbewahren von jungen Eizellen, mit anschließender Sterilisation der Frau. „Die Eier liegen in verschiedenen Banken um den Erhalt sicherzustellen, sollte eine Pleite geht”, fügt er halb-scherzend hinzu. Hat die Frau später einen Kinderwunsch, kann sie ihre eigenen jungen Eizellen für eine Schwangerschaft verwenden. Laut Djerassi wird die Konsequenz dieser Methode, eine Zunahme an immer mehr und mehr älteren Müttern sein. „Die biologische Uhr wird de facto um mindestens fünf Jahre erhöht”, sagt der Chemiker. Im Hinblick auf die Entwicklung der Einheit Familie und der Kinder, durch künstliche Eingriffe in die Abläufe der Reproduktion, beruhigt Derassi: Die Alternativen Methoden der Befruchtung werden das Konzept der nuklearen Familie (Frau, Mann, Kind) nicht zerstören. Djerassi geht davon aus, dass in Zukunft „Ein gewünschtes Kind der absolute Zement für eine Familie sein wird.” „Wenn man nur noch Wunschkinder hat, wird es keine Abtreibungen mehr geben. Außerdem werden Kinder von lesbischen Paaren, alleinstehenden Müttern etc. erzogen und ein Studie stellte fest, dass sich diese Umstände weder im Verhalten, im Charakter, noch in kognitiven oder psychologischen Kompetenzen bei diesen Kindern abzeichnen.”
Ansätze Software: Stimulation der Reproduktion
Wenn wir uns das französische oder skandinavische Modell ansehen, bedarf es nicht unbedingt einer Hardware, wenn es um die Erhöhung der Geburtenrate geht. In Frankreich zum Beispiel stimulieren signifikante finanzielle Anreize und ausreichend Kinderbetreuungsangebote die Reproduktion. Skandinavien bietet ein umfangreiches Angebot der Kinderbetreuung, was ebenso die Erhöhung der Geburtenzahlen bewirkt. In Israel sind Kinderkrippen und Kindergärten in Firmen integriert. „Man kann mir nicht erzählen, dass so etwas nicht in Österreich machbar wäre. Es ist nur eine Frage des Geldes und absolut nichts anderes, ein Softwareproblem”, sagt Djerassi. Was die frühe und lange Trennung der Eltern und Kinder betrifft erklärt Djerassi: „Das soziale Verhalten wird in öffentlichen Kinderbetreuungsangeboten genauso geschult und soziale Beziehungen werden hier ebenso etabliert wie in der Familie. Und das ist sehr wichtig, vor allem in geriatrischen Ländern, in Familien mit nur noch ein bis zwei Kindern.” Folgendes findet er sehr bemerkenswert und sinnvoll: „Das Skandinavische Modell bindet den Mann vielmehr in die Betreuung der Kinder ein, wie zum Beispiel eine verpflichtende Vaterkarenz. Und so etwas kann über Nacht in Österreich gemacht werden, was einen Effekt haben würde”, meint Carl Djerassi.
Carl Djerassi bemerkt abschließend, dass, unabhängig von den Anreizen, die man Frauen gibt, um Kinder zu gebären, sich dennoch das Kinderkriegen nach hinten verschiebt. In Bezug auf Österreich urgiert er, die Empfehlungen der Österreichischen Bioethikkommission zu implementieren. Und wenn es darum geht, rasch zu handeln, stellt sich für ihn die Frage, „was am einfachsten einzuführen ist.” Hier besteht für Djerassi kein Zweifel: Kinderbetreuungseinrichtungen wie Kinderkrippen, Kindergärten, Horte etc. „und das ist ein rein finanzielles Problem.” Er plädiert für nachhaltige, kleine Schritte, die seiner Meinung nach „enorme Konsequenzen mit sich bringen.”
Zitate:
- „Die Pille für einen nationalen Selbstmord verantwortlich zu machen, ist kompletter Unsinn, außerdem ist es eine große Beleidigung für Frauen.”
- „You need 2,1 children per family to reproduce yourself.”
- „We pay very little attention to preventive medicine.”
- „I think the behavior in Austria when it comes to smoking is embarrassing.”
- „In the last 50 years of the last century, the leitmotiv in reproduction was contraception. The leitmotiv in the geriatric world now is conception, and perhaps infection, if we are talking about sexually transmitted diseases.”
- „The absolute cement for a family is: they want the child.”
- „Wir müssen realistisch bleiben, denn wir reden über Vorschläge für die Regierung. Wenn wir ein Aussterben der Bevölkerung akzeptieren und die Regierung diesen Ansatz proklamiert, wird sie nicht wieder gewählt werden. Es hat keinen Zweck darüber zu diskutieren, auch wenn man mit dieser Prognose richtig liegen würde.”