Viele Probleme, die wir derzeit beim Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft beobachten können, wie zum Beispiel die abnehmende Bereitschaft zu sozialem und politischem Engagement oder die zunehmenden Tendenzen der Polarisierung und Spaltung sowie damit einhergehend die in immer mehr Bereichen abhandenkommende Fähigkeit zur Debatte im Sinne einer Toleranz unterschiedlicher Standpunkte, haben nicht nur gemeinsame Ursachen, sondern lassen sich auch auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wir leben nämlich, so unsere Vermutung, in einer „Bequemlichkeitsgesellschaft“, die „Convenience“ zu einem ihrer axialen Strukturprinzipien erhoben hat.
Als Paradebeispiel dafür kann der vor drei Jahrzehnten, zur Zeit der beginnenden Kommerzialisierung des Internets von Jeffrey „Jeff“ Bezos gegründete Online-Versandhändler Amazon gelten, weshalb wir von einem Phänomen der gesellschaftlichen „Amazonisierung“ sprechen können. Bücher, Musik und Filme, Gegenstände des täglichen Bedarfs, Bekleidung, Lebensmittel oder auch Fast Food bestellen und bezahlen wir heute mit wenigen Klicks bequem von zuhause aus, sodass es nur mehr den Griff zum Mobiltelefon und zur Kreditkarte sowie anschließend wenige Schritte von der Couch zur Wohnungstür braucht.
Wokeness und Cancel-Culture Ausdruck der Bequemlichkeit
Nach diesem Vorbild erwarten sich viele Bürgerinnen und Bürger mittlerweile von der Politik die Bereitstellung bequemer Lösungen für drängende Probleme unserer Zeit oder wünschen sich Schülerinnen und Schüler bzw. Studentinnen und Studenten das bequeme Erlangen von Schul- bzw. Hochschulabschlüssen – jeweils ohne sich selbst dafür in besonderem Maße engagieren zu müssen. Zugleich gewinnen im öffentlichen Diskurs vorschnell vereinfachende Positionen an Attraktivität, wie uns insbesondere populistische Parteien deutlich vor Augen führen, während differenzierte Analysen und Argumente, die unbequeme Anstrengung mit sich bringen, an Marktanteil verlieren. Wir sehen außerdem einen Rückzug in Filterblasen, wo die Gefahr unbequemer Irritation durch abweichende Sichtweisen gering ist und man es sich vielmehr in wechselseitiger Bestätigung der eigenen Meinung bequem machen kann.
Während man ursprünglich mit politischer Korrektheit und Trigger-Warnungen gegen Ungerechtigkeit und Re-Traumatisierung vorgegangen ist, führen nun Wokeness und Cancel-Culture zur Errichtung kitschiger Komfortzonen, in denen sich niemand mehr „unwohl“ fühlen muss. Die Bequemlichkeit ist also keineswegs nur eine physische, sondern über weite Strecken eine psychische.
Wertewandel als tiefere Ursache
Hinter diesen gesellschaftlichen Entwicklungen liegt als eine mögliche gemeinsame sozialstrukturelle Ursache jener Wertewandel, den der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons bereits vor einigen Jahrzehnten an der um sich greifenden individuellen und instrumentellen Rationalität festgemacht hat. Mit anderen Worten: Wir tendieren heute dazu, die soziale Welt bzw. soziale Zusammenhänge wie die Gesellschaft, aber auch Schulen, Hochschulen, Freundeskreise usw. in erster Linie als instrumentelle Mittel für die Erlangung individueller Zwecke zu betrachten, statt in ihnen einen „Selbstzweck“ zu sehen, den es in gemeinschaftlicher Anstrengung zu pflegen gilt.
Zu dieser Tendenz in Richtung zunehmender Individualisierung und Instrumentalisierung kommen in unseren Tagen noch Trends um sich greifender Infantilisierung (wie sie beispielsweise an Erwachsenen in Kapuzenpullis, auf Klapp-Scootern mit dem Wunsch nach „korrekter“ Sprache und „Wertschätzung“ abzulesen sind). Insgesamt führt dies zu einem Zeitgeist, der sich auf die Rolle des Kunden zurückzieht und dessen Bedürfnisse keinen Aufschub dulden, sondern gewissermaßen mit „1‑Klick“ befriedigt werden sollen.
Künstliche Intelligenz und die bequeme Gesellschaft
Diese Grundhaltung kommt unter anderem in einem derzeit besondere Aufmerksamkeit genießenden Thema zum Ausdruck, nämlich der „künstlichen Intelligenz“ (KI). Diese verspricht beispielsweise in Gestalt von „ChatGPT“ in der Tat prompte Antworten auf alle möglichen Fragen des Lebens – so auch für die hier verhandelten über die Bequemlichkeit (abgerufen von chat.openai.com am 3.5.2024):
User: Welche Rolle spielt Bequemlichkeit in unserer Gesellschaft und welche Bedeutung hat künstliche Intelligenz dafür?
ChatGPT: Bequemlichkeit spielt eine bedeutende Rolle in unserer Gesellschaft, da sie oft ein wichtiger Faktor bei der Entscheidungsfindung und dem Verhalten der Menschen ist. In einer Welt, die immer schnelllebiger wird, suchen die Menschen ständig nach Möglichkeiten, ihr Leben einfacher und komfortabler zu gestalten. Bequemlichkeit kann sich auf verschiedene Aspekte des Lebens beziehen, sei es bei der Arbeit, im täglichen Leben oder bei der Nutzung von Technologie.
Künstliche Intelligenz (KI) hat in diesem Zusammenhang eine zunehmend wichtige Bedeutung erlangt. Durch die Automatisierung von Prozessen und die Entwicklung intelligenter Systeme kann KI dazu beitragen, die Bequemlichkeit in vielen Bereichen des Lebens zu verbessern. Beispiele hierfür sind personalisierte Empfehlungen beim Online-Shopping, intelligente Haushaltsgeräte, die den Alltag erleichtern, oder Sprachassistenten, die auf gesprochene Befehle reagieren und Aufgaben erledigen können. Durch den Einsatz von KI können Aufgaben automatisiert und effizienter gestaltet werden, was den Menschen Zeit und Mühe erspart.
Dies trägt dazu bei, dass Bequemlichkeit immer mehr zu einem zentralen Aspekt des modernen Lebens wird. Allerdings gibt es auch Diskussionen über die Auswirkungen dieser zunehmenden Bequemlichkeit auf andere Bereiche, wie etwa die Abhängigkeit von Technologie oder die Auswirkungen auf die Arbeitswelt.
In diesem Zusammenhang lässt sich jedoch vermuten, dass künstliche Intelligenz es sich selbst nicht im menschlichen Sinne „bequem machen“ kann, weil sie zwar danach strebt, ihre eigenen Vorgänge in Hinblick auf Effizienz und Effektivität zu optimieren, jedoch nicht in der Lage ist, aus vorrangig emotionaler Motivation auf Effizienz- und Effektivitätsgesichtspunkte (vorsätzlich) zu verzichten. Damit wird es letztlich – überraschenderweise – möglich, gerade die Möglichkeit der Bequemlichkeit zu einem Kriterium der Abgrenzung zwischen der herkömmlichen, humanen und einer kommenden, posthumanen Gesellschaft zu machen (ebenfalls abgerufen von chat.openai.com am 3.5.2024):
User: Wieso kann KI es sich nicht so wie Menschen bequem machen?
ChatGPT: KI kann nicht auf die gleiche Weise wie Menschen bequem werden, weil sie nicht über die gleiche Art von Erfahrungen, Empfindungen oder Bedürfnisse verfügt. Menschliche Bequemlichkeit basiert oft auf körperlichem Komfort, emotionalen Zuständen und persönlichen Vorlieben, die durch komplexe biochemische und psychologische Prozesse entstehen. KI hingegen versteht diese Aspekte nicht auf die gleiche Weise wie Menschen und hat keine eigenen körperlichen Empfindungen oder Emotionen.
KI kann jedoch so konzipiert werden, dass sie Aufgaben effizienter erledigt, was letztlich zu einer Erleichterung für Menschen führen kann. So können intelligente Systeme entwickelt werden, um Arbeit zu automatisieren oder um personalisierte Empfehlungen zu geben, die den Menschen Zeit und Mühe sparen. Aber das Konzept der „Bequemlichkeit“ in dem Sinne, wie es Menschen verstehen, ist für KI nicht relevant, da sie nicht über menschliche Bedürfnisse oder Gefühle verfügt.
Ebenso überraschend ist oft für den zweiten Blick, dass die neuen technologischen Möglichkeiten nur auf den ersten Blick für mehr Bequemlichkeit sorgen, indem sie durch mehr Effizienz und Effektivität dabei helfen, Zeit zu sparen – Zeit, die dann für Erholung, Faulenzen oder Kontemplation verwendet werden kann. Denn mit neuen faktischen Möglichkeiten steigen auch die normativen Erwartungen und Ansprüche. Man denke nur an Errungenschaften der Kommunikationstechnologie wie Mobiltelefon, E‑Mail usw., mit denen sich sehr bald die Erwartungen an die Erreichbarkeit und die Ansprüche an die Antwortgeschwindigkeit verändert haben (was an das Phänomen der „Risikohomöostase“ erinnert).
Die Bequeme Gesellschaft zerstört ihre Grundlagen
Vor allem sind durch die Dominanz von „Convenience“ als Orientierungsprinzip des Denkens und Handelns jedoch langfristig schwerwiegende Folgen für zivilisatorische Errungenschaften, die wir heute fälschlicherweise als Selbstverständlichkeiten betrachten, zu befürchten: Aufklärung, liberale Demokratie, Menschenrechte, Bildungsexpansion und die soziale Absicherung im Wohlfahrtsstaat bringen für uns zwar immer mehr Bequemlichkeit, bedürfen jedoch ihrerseits der Anstrengung und beruhen damit auf eher unbequemen Voraussetzungen: Sie müssen mit Einsatz und Engagement verteidigt bzw. mancherorts sogar schon wieder neu errungen werden. Ein allzu voreiliger Verzicht auf derartig unbequeme Mühen führt aller Voraussicht nach früher oder später zum Verlust ihrer bequemen, heute fälschlicherweise als selbstverständlich angesehenen Folgeerscheinungen, insbesondere der persönlichen Freiheit und der sozialen Sicherheit. Immer lauter wurden in den vergangenen Jahren diesbezügliche Alarmsignale und Weckrufe, doch scheinen vor allem die Europäerinnen und Europäer sowie die offiziellen Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Union diese nicht hören zu wollen: Sie machen über weite Strecken den Eindruck, als stellten sie sich taub und hofften, dass die Folgen dieser (ihrer) Versäumnisse sie nicht mehr betreffen würden.
Paul Reinbacher arbeitet nach einem Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie beruflichen Positionen in der Privatwirtschaft und im Hochschulsektor aktuell an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Soeben ist sein Buch „Amazonisierung: Beobachtungen der Bequemlichkeitsgesellschaft“ im Metropolis Verlag erschienen. Mehr auf www.paulreinbacher.at